piwik no script img

Archiv-Artikel

Kampf um Obersten Gerichtshof

Nach dem Rücktritt einer Verfassungsrichterin ist in den USA die Auseinandersetzung um ihre Nachfolge zwischen den Konservativen und den Liberalen voll entbrannt

WASHINGTON taz ■ Im amerikanischen Kulturkampf rüsten sich Konservative und Liberale für eine Schlacht, die vorangegangene Auseinandersetzungen in den Schatten stellen könnte. Sie wird bereits geführt von Kanzeln, im Kongress, in Talkshows, auf Straßen und im Internet. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der derzeit wohl einflussreichsten Säule der US-Regierung: Den Obersten Gerichtshof. Durch den am Freitag angekündigten Rücktritt der Verfassungsrichterin Sandra O'Connor bietet sich Präsident Bush die Chance, einen Gesinnungsgenossen für das hohe Amt zu nominieren.

Stellung und Macht des Supreme Court in den USA ist im Vergleich zu entsprechenden Institutionen in anderen Demokratien besonders stark. Die Verfassungshüter können Gesetze kippen und Präsidenten verhindern. In einer Zeit, in der die US-Politik polarisiert und damit oftmals paralysiert ist, bleibt das Gericht häufig die letzte Instanz, um gesellschaftliche Dispute zu lösen. Viele Themen, die Amerikaner aufwühlen, wie Abtreibung, Minderheitenrechte, Homoehe oder Todesstrafe werden von den Richtern entschieden, nicht von Parlamentariern.

Das Gericht hatte, trotz seiner stets konservativen Grundhaltung, eine überraschend liberalisierende Wirkung auf die US-Gesellschaft. Es verbannte Segregation aus den Schulen und garantierte Frauen das Recht auf Abtreibung. Selbst unter der Führung des überaus konservativen Chefrichters William Rehnquist machte es sich teilweise zum Anwalt von gleichgeschlechtlichen Paaren und benachteiligten Minderheiten.

Das lag nicht zuletzt an der 75-jährigen O'Connor. Sie galt, obwohl von Präsident Ronald Reagan ernannt, als eine moderate, unideologische und pragmatische Stimme. Ironischerweise kann nun Bush, der ihrem Votum nach dem Wahldebakel 2000 in Florida im Rechtsstreit „Bush vs. Gore“ seine Präsidentschaft verdankt, sie durch einen konservativen Kandidaten ersetzen, um dem Gericht und damit dem Land für die Zukunft seinen Stempel aufzudrücken.

Es wird erwartet, dass Bush in den nächsten Tagen seine Wahl bekannt geben wird. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, einen Abtreibungsgegner zu ernennen, der die christliche Rechte zufrieden stimmen soll. Doch auf Bush wartet eine schwere Hürde: Der US-Senat muss seine Nominierung absegnen. Die Opposition wird, sollte Bushs Kandidat ein Rechtsaußen sein, alle zur Verfügung stehenden parlamentarischen Mittel einsetzen, um ihn zu verhindern. Eine Schlammschlacht steht somit ins Haus, die sich über Wochen, wenn nicht Monate hinziehen und alle anderen Themen auf der innenpolitischen Agenda überlagern dürfte.

Dies wird erst recht der Fall sein, sollte sich zudem der Wunsch vieler Republikaner erfüllen und auch der krebskranke 80-jährige Rehnquist noch in diesem oder im nächsten Jahr wie erwartet zurücktreten. Bush würde sich dann eine weitere Chance bieten, die konservativ-ideologische Ausrichtung des Gerichtshofes zu zementieren – ein Albtraumszenario für Demokraten und Liberale.

Für die Rechten hingegen ist dies die lang ersehnte Hoffnung, endlich das 1973 beschlossene Abtreibungsrecht, einen Meilenstein der US-Rechtssprechung, rückgängig zu machen und somit das Rollback liberaler Urteile einzuleiten. Nach Ansicht von Verfassungsexperten wie Tom Goldstein von der Anwaltskanzlei Goldstein & Howe mache der Rücktritt O'Connors einen „fundamentalen Richtungswechsel“ in den USA zumindest möglich: „Die Waage könnte kippen.“ Professor Jeffrey Rosen von der George Washington University glaubt jedoch, dass Bushs primäres Ziel keine soziale, sondern eine ökonomische Gegenrevolution sei, um den regulativen Einfluss des Staates vor allem im Wirtschaftsleben weiter zurückzudrängen.

Vorhersagen über die Auswirkungen, die eine Neubesetzung mit sich bringt, haben sich jedoch in der Vergangenheit als tückisch erwiesen. So mancher konservativ geglaubte Richter entpuppte sich später zum Ärgernis rechter Interessengruppen als weitaus liberaler.

MICHAEL STRECK