Kein Taxi im Schnee

Familien zwischen Zerfall und Traumata: Im Zentrum der Spanischen Filmtage im 3001 stehen ernste Wertediskussionen

Finger in die Wunde: Familiäre Gewalt ist brandaktuellThema Armut: Haschischgeschäfte statt Thunfischfang

von Gaston Kirsche

Toledo in einer Winternacht. In der prächtigen spanischen Stadt mit ihren mittelalterlichen religiösen Bauten brennt noch Licht in zwei Fenstern einer profanen Wohnsiedlung. Pilar rafft hektisch ein paar Sachen zusammen, reißt erst Kleider aus dem Schrank, dann ihren Sohn Juan aus dem Schlaf. Fluchtartig verlassen sie die Wohnung, Pilar versucht ein Taxi anzuhalten, vergeblich. Aber es fährt noch ein Bus. Als Pilar kurz darauf bei ihrer Schwester Ana klingelt, sagt sie konfus: „Ich trage noch meine Pantoffeln.“ Und fällt Ana weinend in die Arme.

Mit dieser Szene beginnt der Film Te doy mis ojos, der mit dem deutschen Titel Öffne meine Augen am 4. August seinen bundesweiten Kinostart hat. Bei den heute startenden Spanischen Filmtagen im 3001 ist der Film vorab zu sehen. Gewalt in der Familie ist in Spanien ein viel diskutiertes Thema. Öffne meine Augen haben 2003 über eine Million SpanierInnen gesehen, es gab Auszeichnungen für den „Besten Schauspieler“ und die „Beste Schauspielerin“, und der Film erhielt 2004 sieben von neun Goyas, den spanischen Filmpreisen.

Es ist wahr: Dieser Film tut weh. Zwar hilft Pilars Schwester, holt das Spielzeug und die Schulsachen des Sohnes, die auf der Flucht zurückblieben. Pilar bekommt durch sie eine Stelle im Souvenirshop der Kathedrale von Toledo und beginnt einen Kurs als Kunstführerin. Aber sie nimmt auch wieder Kontakt zu Antonio auf, dem Mann, vor dessen gewalttätigen Angriffen sie zu Beginn geflüchtet war. Der Film wirft Fragen auf, die Regisseuri Iciar Bollain präzisiert: „Warum bleibt eine Frau ungefähr zehn Jahre lang mit einem Mann zusammen, der sie schlägt? Warum verlässt sie ihn nicht?“

Die in Spanien immer noch wichtige Institution Familie steht auch im Zentrum weiterer Filme: In Para que no me olvides („Damit du mich nicht vergisst“) geht es um das Zusammenleben dreier Generationen. Alle stehen an unterschiedlichen Punkten im Leben. Großvater Mateo war fast noch ein Kind während des spanischen Bürgerkriegs, in dem General Franco siegte. Unter dessen Diktatur verlor Mateo sein Zuhause und seine Familie. Sein Beharren darauf, dass etwas von den Toten bleiben muss, beruht auf dieser Erfahrung. Aber auch die anderen haben Verletzungen erlebt. Was in dieser Konstellation ein unerwartetes Ereignis bewirkt, zeigt der Film in teils anrührenden Szenen.

Wer lieber einen heiteren, skurrilen Familienfilm sehen will, ist mit Thunfisch und Haschisch gut bedient. Dieser Film spielt in dem Fischerdorf Barbate, gelegen an der Südspitze Spaniens zwischen Cádiz und Gibraltar. Der Handlung liegen reale Ereignisse zugrunde: Wenn die Polizei in Barbate Drogenrazzien macht, erfährt die lokale Polizei davon zuletzt – es werden ja Bekannte aus dem Dorf hochgenommen. Der Thunfischfang bringt nur noch wenig ein für Fischer mit kleinen Booten, die gegen die Fangfabriken nicht ankommen. Gleichzeitig ist Thunfisch so teuer, dass sich viele angestellte Fischer keinen mehr leisten können. Aber die kleinen Boote lassen sich auch für andere Transporte nutzen, und mit Hasch ist mehr Geld zu machen. Vor diesem in Spanien bekannten Hintergrund entfaltet sich in dem Film eine komödiantische Art, sich den Schmuggel zunutze zu machen, damit doch noch ein ganzer Thunfisch auf den Tisch kommt – denn sonst können Manolins Eltern nicht heiraten, und er wird nicht zur Kommunion zugelassen.

Spanische Filmtage: 7.-20.7. Programm: www.cinelatino.de