: Das Langstrumpf-Prinzip
Ihr Wissen kommt nicht aus dem Schulbuch, sondern aus dem Leben. Die wichtigsten Lektionen eines Role-Models der Anti-Bildung
VON CHRISTINE STÖCKEL
Sie ist der wohl berühmteste Bildungsverweigerer des letzten Jahrhunderts: Plutimikation, nein danke! Das Alphabet aufsagen, wozu das? Zeichenunterricht, absurd! Wozu rechnen lernen, wenn daheim ein Koffer voller Gold wartet. Wozu schreiben können, wenn miteinander sprechen so viel schöner ist. Und wie zur Hölle soll die Welt auf ein winziges Blatt Papier passen. Die Rede ist von Pippi Langstrumpf, Krawallmacherin, Regelwegwerferin und selbsternannte Bildungsasketin.
Außer Pippi werden alle Kinder irgendwann erwachsen. Warum das so ist, kann niemand mit Sicherheit sagen. Womöglich gab es eine Zeit, in der niemand Untersetzer unter seine Gläser stellte oder sonntags sein Auto in der Einfahrt wusch. Und dann kam jemand daher, ein biblischer Greis vielleicht, der die „Sorge“ erfand. Denn Sorgen machen alt. Sorgen über Renteneintrittsalter zum Beispiel. Die allerneuste Sorge auf dem Markt heißt „Bildung“ und verkauft sich ganz hervorragend. Jemand hat bestimmt: „Gute Noten gleich gutes Leben!“, und als Verkaufsanreiz gab es die Pisa-Studie gratis dazu. Seither werden Kinder noch viel schneller erwachsen. Denn ihre Eltern fürchten ihre Verdummung, wenn man sie nicht pränatal mit Haydns 104. Symphonie beschallt, im Kindergarten Chinesisch lernen lässt und nach dem Abitur für ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Kambodscha schickt. Einen lückenlosen Lebenslauf nennen das diese neuen Tigereltern. Öde, nennt das Pippi. Denn gerade vom Kindsein lernt man am meisten.
„Nimm doch einfach ne Pille!“, würde Pippi sagen. Eine Krummeluspille, die dafür sorgt, dass du nie erwachsen wirst. Denn wenn Pippi unerzogen, aufsässig und frech geschimpft wird, so ist sie doch im Grunde nur eines: ein Kind. Das kann sie ohnehin am besten. Kindsein gegen die Sorgen und für ein faltenfreies Leben nach dem Motto: Mache, was dir gefällt! Und genau das tun wir jetzt. Wir schlucken die Pille und gehen schwänzen. Und zwar mit Pippi. Und wehe, auch nur einer denkt darüber nach, wie man den Genitiv bildet oder was die Quersumme aus 243 ist.
„Zuallererst füttern wir unseren Vogel“, sagt Pippi. „Ihr habt doch alle einen, oder?“ Denn den eigenen Vogel zu füttern, das gilt gemeinhin als Voraussetzung für erfolgreiches Gegen-den-Strich-Denken. Alle großen Denker sind zunächst einmal Querdenker, und die fallen nicht vom Himmel, sondern vor allem aus dem Rahmen. Sie sind Stuhlkippler und Klassenclowns. Einfach bloß Storms „Schimmelreiter“ zu rezitieren stiehlt hingegen kostbare Fantasiereserven. Deshalb halten wir es wie Pippi: Wir haben eigene Ideen. Wir hängen die Wäsche im Regen auf, pflanzen Limonadenbäume oder laufen auf den Händen. Das eröffnet neue Perspektiven und Heureka-Momente. Und womöglich sagst du dann auch so verrückte Sachen wie: „Ich bin überzeugt davon, dass Zeit, Raum und Gravitation miteinander in Zusammenhang stehen!“, oder auch: „Ich glaube, Bratwurst und Currysoße schmecken ganz vorzüglich in der Kombination!“
Pippi hat eindeutig ein Problem mit Autoritäten. Heute würden ihre möhrenfarbenen Zöpfe wahrscheinlich unter einer Guy-Fawkes-Maske hervorschauen. Denn Pippi weiß, dass man sich von den Prusselieses dieser Welt nichts gefallen lassen darf. Deshalb kleben wir das Bild des Lehrers, der uns vor die Tür gesetzt hat, neben das der Nachbarin, die die Grundstücksgrenzen mit dem Geodreieck ausmisst. Und dann pusten wir zum Warmwerden mit Papierkügelchen auf diese Miesmacher. Danach sind die Eltern dran. Die sind zwar wunderbar, um dich bei Masern im Arm zu halten, aber sie stellen unsinnige Regeln auf. Etwa „Nicht die Augen verdrehen, sonst bleiben die so!“ Und wenn schon, wo wäre Jerry Lewis ohne sein einmaliges Schielen? Zu viel artiges Ohrenputzen lässt dich ratzfatz zu Tommys und Annikas werden: zu „Aber das geht doch nicht“-Menschen ohne Fantasie. Dafür aber mit erschreckend sauberen Ohren.
„Aber das geht doch nicht, Pippi, so ohne Eltern. Du solltest wirklich ins Kinderheim“, sagt die Prusseliese. Keine Chance, das schwedische Jugendamt beißt bei Pippi auf verbrannte Kekse. Wenn es dir ähnlich geht, wenn Pippis Kinderheim deine Geigenstunde oder deine Ballettschule ist, dann sage einfach „Nein!“. Denn Pippis Superkraft ist nicht etwa ihr Bärenstärke, sondern ihr Mut zur Anarchie.
„Aber Pippi, das geht doch nicht“, sagt Annika. „Mit den Füßen auf dem Kopfkissen schlafen.“ „Annika, wusstest du etwa nicht, dass in Ägypten alle Menschen mit den Füßen nach vorn schlafen?“ Pippi ist nicht nur eine Querdenkerin und Anarchistin, sie ist auch eine erstklassige Randwisserin. Und zwar abseits des Bildungskanons. Ihr Papa ist immerhin Kapitän Langstrumpf. Während andere Erwachsene mit Smalltalk langweilen, der immer smaller wird, erzählt er von seinen Reisen. Er weiß, dass Schulbücher nicht weiterhelfen, wenn du wissen willst, wie heiß sich die marokkanische Sonne auf der Haut anfühlt. Statt in den All-inclusive-Urlaub segelst du deshalb auf der Hoppetosse third class über die wilde See und sammelst eigene Erfahrungen. Und das nicht nur, weil sich das so gut im Lebenslauf macht. Nein, eine Reise muss immer ein Abenteuer sein, und davon hat man lieber eines mehr als einen Master zu viel.
„Aber Pippi, das geht doch nicht. Du musst doch das Alphabet aufsagen können“, mahnt die Lehrerin. „Wozu muss ich seekrank buchstabieren können, wenn ich es niemals werde?“, fragt sie. Ja, wozu? Man muss doch nicht in allem gut sein. Außerdem, nur weil Pippi nicht gut schreiben kann, heißt das noch lange nicht, dass sie es nicht tut. Lass dich von niemandem in deinen Interessen einschränken, denn das nimmt dir nur deine Neugierde. Es muss Menschen geben, die es eben doch versuchen. Oder wusstest du, dass Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks, Legastheniker war? Dasselbe gilt für Ernest Hemingway und Hans Christian Andersen. Und auch zum Mord im Orientexpress wäre es wohl nie gekommen, wenn Agatha Christie, ebenfalls rechtschreibschwach, auf ihre Lehrer gehört hätte.
Zugegeben, Pippi hat leicht reden. Ihr Papa arbeitet immerhin full-time als Südseekönig, ist nie daheim und hat seine Tochter mit Goldkoffer und Villa finanziell abgesichert. Sie ist frei und selbstbestimmt. Diese Voraussetzung hat nicht jeder. Trotzdem, ein bisschen Pippi-Sein ist immer drin. Und wenn jemand sagt: „Aber das geht doch nicht!“, dann zeige ihm diese Ausgabe!