: Revolution per Handzeichen
Was haben Überlegungen über die Berechtigung eines politischen Mordes mit der Occupy-Bewegung zu tun? Mit dieser Frage geht man gespannt in Volker Löschs Inszenierung von Albert Camus' Drama „Die Gerechten“. Nach der Aufführung allerdings sucht man bestenfalls nach Verständnis für die Urheber dieses Theaters
von Annette Ohme-Reinicke
Warum erinnert sich ein Regisseur, der Theater als politische Intervention begreift, ausgerechnet jetzt an Camus? Schließlich hatte Volker Lösch kurzerhand sein Programm geändert und Upton Sinclairs „Öl!“ gestrichen. Es muss die Erfahrung einer tiefen politischen Enttäuschung gewesen sein, die Lösch mit Camus teilt.
Denn Volker Lösch, der vor gut einem Jahr in einer Rede auf dem Stuttgarter Schlossplatz den applaudierenden Demonstranten voreilig zurief: „So sehen Sieger aus!“, mag sich beim Anblick des im Februar gerodeten Schlossgartens, des Symbols der Protestbewegung gegen Stuttgart 21, an Albert Camus' „Sisyphos“ oder „Der Mensch in der Revolte“ erinnert haben. Beide Essays sind in Zeiten entstanden, als emanzipatorische Aufbrüche missglückt und von repressiver Gewalt umzingelt waren. Gegen die Niederlage sozialer Bewegungen macht Camus in seinen Texten den Beginn revolutionärer Prozesse stark: die Revolte. Und siehe da: „Was uns interessiert hat, geht eigentlich von dem Hauptwerk von Camus aus: der Mensch in der Revolte“, so Lösch in der Kontext:Wochenzeitung („Arbeit in Starkwindzonen“, 16. Juni 2012.
Anders als Lösch war Camus freilich nicht getrieben durch die Rodung von Bäumen oder den drohenden Bau eines Bahnhofs. Auch nicht von Manipulationstechniken etablierter Politiker zur Delegitimierung einer Protestbewegung. „Der Mensch in der Revolte“ entstand vielmehr in den 50er-Jahren, als sich Camus von der Niederlage der Résistance gegen den Faschismus einerseits und dem stalinistischen Verrat des revolutionären Aufbruchs andererseits umstellt sah. Wenige Jahre vorher hatte er in der Résistance noch auf einen Sieg der Kommunisten gehofft. Allein: „Atmen heißt urteilen“ – mehr war vom Leben nicht übrig geblieben, als sich Camus des Versprechens der Revolte vergewisserte. Aber was bedeutet ihm Revolte eigentlich?
Der Knecht wird sich mit einem „Nein!“ seiner selbst bewusst
Die Revolte beginnt mit einem „Nein!“ Jemand, „der sein Leben lang Befehle erhielt, findet plötzlich einen neuen unerträglich“. Dieser Knecht, Metapher für ein bewusstloses, an den Verhältnissen leidendes Individuum, äußert einen Widerspruch zum Funktionieren. Mit seinem „Nein!“ bekennt er sich zu sich selbst: Er wird sich seiner selbst bewusst. „Das Bewusstsein tritt zusammen mit der Revolte an den Tag.“ Der revoltierende Mensch artikuliert die Gewissheit, ein Recht zu haben, nicht länger erniedrigt zu werden. Dieses Recht, das er annimmt, erkennt er zugleich als einen Wert an, für den es zu streiten lohnt. Camus geht davon aus, dass der naturrechtlich gegebene, aber aktuell verwehrte Idealzustand des Menschen frei von Unterdrückung ist. Gemeint ist ein Idealzustand der „Menschen unter Menschen“, die sich ihrer selbst bewusst sind.
So ist die Revolte für Camus „die Bewegung (…), die von der Erfahrung des Einzelnen zur Idee führt.“ Sie ist jene „wahre, weil wirkliche Bewegung“ (Marx), in der es um nicht weniger geht als den Kampf zwischen Herrschaft und Knechtschaft, der dem Recht auf Leben Geltung verschaffen will. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Kampf verschiedener Personen, nicht um einen wirklichen Kampf auf Leben und Tod, sondern um Bewusstseinsformen bei der Aufhebung repressiver Verhältnisse. Camus fasst seine Überlegungen über den Menschen in der Revolte mit den Worten zusammen: „Ich empöre mich, also sind wir!“ Hier geht es um nicht weniger als die Bildung politischen Bewusstseins.
In Volker Löschs Inszenierung wird der Prozess der Bewusstwerdung zu einer aufgesetzten Aufforderung zum Mitmachen. Warum sich die Schauspieler ausnahmslos aggressiv anschreien, wenn sie Camus rezitieren, bleibt rätselhaft. Während der Premierevorstellung des Stückes stellen die Schauspieler dem Publikum verschiedenste politische Aktionen der letzten Zeit vor – ob in Russland, den USA oder in Deutschland. Sie fragen, ob es richtig sei, etwas gegen den Rüstungsexport aus Baden-Württemberg zu unternehmen. Einer antwortet immerhin mit „Nein!“, denn schließlich werde aus der ganzen Bundesrepublik Rüstung exportiert, nicht nur aus Baden-Württemberg. Es wird abgestimmt. Die Inhalte scheinen beliebig, ebenso hätte die Käfighaltung von Legehennen thematisiert werden können. Besonders grotesk wirkt der Hinweis von der Bühne, die besten Aktionen seien „beim Bier“ entstanden.
Abstimmungsverhalten statt Bewusstseinsbildung
Das Publikum fühlt sich entweder fehl am Platz, weil nicht in die Kneipe gegangen, oder richtig, weil auf der Seite derer, die den anderen einmal zeigen wollen, wie man so etwas macht. Dabei sitzen die Zuschauer in etwa fünfzig Reihen als Masse hintereinander: kein geeigneter Raum, um über politische Aktionen zu diskutieren. Einige sind dennoch begeistert, andere fühlen sich manipuliert. Die Aufforderung zum Handeln, ohne wirklich auf die Einwände der Theaterbesucher einzugehen, gerät zum dumpfen Versuch, Massen in Bewegung zu setzen. Statt Bewusstseinsbildung wird Abstimmungsverhalten eingeübt.
Vorher wurden überdies einige Kommunikationsformen der Occupy-Bewegung trainiert. Man verständigt sich mittels „menschlichem Mikrofon“. Dieses war im New Yorker Zucotti-Park aus der Not geboren, als den Demonstranten verboten worden war, elektronische Mikrofone zu benutzen, um die Arbeitenden in den umliegenden Bürogebäuden nicht zu behindern. Während am selben Tag in Frankfurt Tausende gegen die Macht der Investoren und deren politische Stellvertreter auf die Straße gehen, findet im Stuttgarter Theater lediglich die Simulierung politischer Ausdrucksformen statt.
Die Pseudoradikalität gipfelt in der Frage der Schauspieler an das Publikum: Wer für Reform und wer für Revolution sei. Die Reaktionen fallen verhalten aus. Allerdings stellt sich eine denkwürdige Analogie zu Camus' Revolutionsbegriff ein. Seiner Auffassung nach hat es noch keine Revolution gegeben, ist Geschichte lediglich die Summe aufeinanderfolgender Revolten. Auch der russische Kommunismus, so Camus, ist lediglich die dramatische „Verherrlichung des Henkers durch die Opfer.“ Die Vertreter des spanischen Syndikalismus dagegen, auf die sich Albert Camus positiv bezieht, sieht er nicht als Revolutionäre, sondern als Revoltierende, die den Anspruch auf Leben gegen jegliche Tyrannei aufrecht erhalten. Volker Lösch wiederholt hier entweder die von Camus kritisierten historischen Erfahrungen, oder er bemüht sich schon einmal, den historischen „Sprung“ von der Revolte zur Revolution per Handzeichen einzuüben.
Was hat das alles mit dem politischen Mord zu tun? Der politische Mord, so Camus, setzt der Revolte eine Grenze und entzieht ihr die Legitimation. Hier entsteht aber ein Widerspruch, denn Camus sieht den politischen Mord als durchaus gerechtfertigt an. Ebendieses Problem thematisiert er in „Die Gerechten“ am Beispiel einer Gruppe russischer Terroristen aus dem Jahr 1905, die einen Großfürsten ermorden wollen, um dessen despotische Herrschaft zu beenden. Allerdings treten Zweifel auf: Ist es berechtigt, auch die Kinder des Fürsten zu töten oder dessen Ehefrau? Vor allem stellt sich die Frage: Was geschieht mit dem Attentäter. Denn: „Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, von der er indes seine Rechtfertigung ableitete.“
Die Unschuld des Attentäters ist sein eigener Tod
Das Dilemma wird „gelöst“, indem der Attentäter selbst stirbt. Dessen Souveränität, die Camus für durchaus „tugendhaft“ hält, zeigt sich darin, dass der Attentäter weiß, selbst sterben zu müssen. Er hat die Menschheit zwar von einem Despoten befreit, sucht aber, da er selbst zum Mörder geworden ist, den Tod. „Ich habe beschlossen zu sterben, damit der Mord nicht den Sieg erringt. Ich habe beschlossen, unschuldig zu sein“, so Kaliajew, der Attentäter. In „Der Mensch in der Revolte“ schreibt Camus: „Der Revoltierende kann sich nur auf eine Weise mit der mörderischen Tat versöhnen, wenn er sich zu ihr hinreißen ließ: durch die Hinnahme seines eigenen Tods. Er tötet und stirbt, damit es ersichtlich werde, dass der Mord unmöglich ist.“ Als historisches Beispiel nennt Camus Saint-Just, der heiter zur Guillotine schritt.
Die Radikalität Camus' zeigt sich nicht etwa in einem großen Knall wie bei Volker Lösch am Ende der Aufführung oder in Aktionismus. Sie zeigt sich in dem Bewusstsein, dass Gerechtigkeit und Freiheit keine individuellen Privilegien sein können, sondern für alle Menschen gleichzeitig gelten müssen: „Die Freiheit ist ein Gefängnis, so lange ein einziger Mensch auf Erden geknechtet ist“, lässt er einen der russischen Aktivisten sagen. Sie zeigt sich außerdem in der unbedingten Bejahung des Lebens in der Gegenwart, das sich nicht durch Prophezeiungen, Heilsversprechungen oder Stellvertretertum, weder von links noch von rechts, hinhalten und verknechten lässt.
Es stimmt: Volker Lösch kann Zuschauer mitreißen. „Aber es geht nicht darum, Menschen mitzureißen. Wesentlich ist im Gegenteil, dass sie nicht mitgerissen werden und dass sie genau wissen, was sie tun“, so Camus 1946. So wirkt die Inszenierung wie ein misslungener Versuch.