: Wie leicht ihm doch die Kunstgriffe des Folterns fallen
FABULIERLUST Zwei Bücher in einem: In William Boyds neuem Roman wird ein Schauspieler mit Orgasmusproblemen zum Agenten wider Willen
William Boyd hat zwei neue Bücher geschrieben. Eines handelt von einem Theaterschauspieler namens Lysander Rief, der seine Heimat London samt seiner Verlobten für einige Monate verlässt und sich nach Wien begibt. Dort, in der Wiege der Psychoanalyse – wir schreiben das Jahr 1913 –, erhofft er sich Erlösung von seiner Orgasmusblockade. Schließlich steht die Vermählung und folglich die Hochzeitsnacht bevor. Natürlich kommt alles anders als geplant und natürlich erlangt der junge Mann Heilung nicht auf Dr. Bensimons Couch, sondern in den Armen einer Frau.
Das andere Buch beginnt zwar auch in Wien, aber das weiß anfangs nur der Leser. Lysander Rief erfährt erst sehr spät, wie alles zusammenhängt. Oder besser: Wie genau die Fäden verknüpft sind zwischen diesen beiden Geschichten, zwischen Wien, London und Genf, das weiß am Ende eigentlich weder der Leser noch die Hauptfigur. Vieles bleibt im Dunkeln. Klar ist: Weil Lysander seine sexuelle Befreierin, eine quirlige Dame namens Hettie, schwängert, muss er aus Wien fliehen. Er bekommt dabei Hilfe vom englischen Geheimdienst. Natürlich nicht umsonst. Von nun an steht Lysander im Dienste des Krieges. Und dank seines berufsbedingten Verwandlungstalents sieht er wenig von der Front, sondern hält sich fortan viel in Hinterzimmern, dubiosen Cafés und Hotels auf. Kurz: Boyds zweites Buch handelt davon, wie ein normaler Mensch zum Agenten wird. Wie einer aus dem Raster seines Lebens fällt in ein völlig anderes, ohne etwas dafür zu können und doch aus eigener Schuld.
Das kennt der Leser aus „Einfache Gewitter“, wie er die Schattenwelt der Agenten kennt aus seinem preisgekrönten Roman „Ruhelos“. Auch die Sphäre der Künstler, samt Bühnen und Kneipen, Partys in Ateliers und zierlicher Frauen, die es faustdick hinter den Ohren haben, ist uns aus Boyds Werk bekannt: Bereits in „Eines Menschen Herz“ und „Nat Tate“ verriet der britische Autor, 1952 in Ghana geboren, sein Faible – und sein Talent – fürs Schrille und Schillernde, für Bars und Boheme, für Kunst und Krisen. Vieles in „Eine große Zeit“ ist dem Boyd-Leser also vertraut – und dank Könnerschaft und Fabulierlust rasant zu lesen. Bis zur Mitte. Bis man feststellt, dass man diesem Lysander seinen Wandel nicht abnimmt.
Verschlüsselte Botschaften
An einer Stelle im ersten Teil des Buches lässt Boyd seinen späteren Agenten wider Willen über seinen eigentlichen Beruf räsonieren: „Große Schauspielkunst“, erklärt Lysander da sich und den Lesern, „große Schauspielkunst heißt, dass man in der Lage ist, ‚Reich mir mal bitte das Salz‘ zu sagen, ohne sich dabei sonderbar oder dämlich oder unheilvoll anzuhören.“ An diesen Grundsatz hält sich Lysander auch dann, als er längst nicht mehr auf der Bühne steht, sondern im Auftrag einiger Geheimdienstler spitzelt, flieht und foltert. Als alles längst sonderbar und unheilvoll ist. Um sich von seinen Schulden bei der englischen Regierung zu befreien, muss Lysander einen Verräter entlarven. Doch zuerst hat Lysander den Auftrag, dem Empfänger den Code der verschlüsselten Botschaften zu entlocken. Als dieser sich als unkäuflich erweist, greift der bisher so harmlose junge Mann zu drastischen Mitteln: Mit Hilfe eines stahlwollenen Topfkratzers im Mund seines Opfers und einem Stromkabel zaubert Lysander eine Art elektrischen Stuhl.
Die nun folgende Szene könnte grausliger kaum sein – und liest sich kühl wie ein Protokoll. Unheilvolles gibt es nicht in dieser Schattenwelt, in der Lysander sich fortan bewegt wie ein alter Hase – der sich aber fortwährend wundert, „wie einfach das gewesen war …“ Als er im Besitz des Codes Genf verlässt, denkt Lysander noch einmal über sein Vorgehen nach. „Wie konnte er sich nur in einen solchen Unmenschen verwandeln? Doch dann fragte er sich, ob Folter wirklich das richtige Wort war. Schließlich hatte er Glockners Kopf nicht zu Brei geschlagen … Dennoch musste Lysander sich eingestehen, dass er verstört war – ihn verstörte sein eigener Einfallsreichtum, … dass es ihm so leicht fiel, sich mit seinem … Er suchte nach einem passenden Ausdruck – Kunstgriff –, sich mit seinem Kunstgriff abzufinden.“
Atmosphärisch ausgemalt
Ein Kunstgriff ist auch „Eine große Zeit“. Sprachlich perfekt, atmosphärisch ausgemalt bis in den letzten Winkel der Straßen Wiens und des englischen Kriegsministeriums, wimmelnd von so prototypischen wie schrägen Figuren. Hier treffen wir den Drehbuchautor Boyd. Doch der Hauptfigur nimmt man seinen Doppelpart nicht ab. Der Agent bleibt Schauspieler. Vielleicht liegt das daran, dass die beiden Bücher zusammengenäht sind zu einem. Mit grober Nadel, so dass zwar kein echtes Ganzes entsteht, man aber die andere Hälfte immer mitschleppt.
BARBARA WEITZEL
■ William Boyd: „Eine große Zeit“. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky. Berlin Verlag, Berlin 2012, 445 Seiten, 22,90 Euro