: „Wie viel müssen wir weinen?“
AUS LONDON RALF SOTSCHECK
Zuerst sind die Londoner überrascht. Eigentlich sind sie nach den vier Bombenanschlägen vom Donnerstag ziemlich schnell zum Alltag übergegangen, wie es ihnen ihre Regierung und ihr Bürgermeister nahe gelegt haben: „Business as usual.“ Doch am Montag steht eine etwa 50-jährige, kräftige schwarze Frau in einem violetten bestickten Kostüm und Kopftuch am Upper Woburn Place, nur ein paar Schritte vom U-Bahnhof Euston entfernt, und schreit ihren Schmerz hinaus.
Marie Fatayi-Williams ist aus Nigeria angereist, um ihren Sohn Anthony zu suchen. Er wurde am Donnerstagmorgen vor dem Bahnhof Euston das letzte Mal gesehen, da wo seine Mutter nun steht. Der 26-jährige Anthony half U-Bahn-Passagieren, die nach den Bomben unter Schock herumirrten. Um 9.41 Uhr rief er bei seinem Arbeitgeber, der Ölfirma Amec, an und sagte, er werde den Bus nehmen und etwas verspätet im Büro eintreffen.
Vermutlich nahm er den Bus der Linie 30, der wegen der Anschläge zum Upper Woburn Place umgeleitet worden war. Um 9.47 explodierte der Bus an der Stelle, wo Upper Woburn Place in Tavistock Square übergeht. Die Überreste des Busses stehen noch immer dort. Lediglich das Dach ist für Untersuchungen weggeschafft worden. „Outright Terror“ steht an der Seite des Busses, zu Deutsch „Offener Terror“ – wie Reklame für einen Film.
Das kann Marie Fatayi-Williams nicht sehen, denn die Straße ist mit einer Sichtblende abgesperrt. Nur manchmal, wenn ein Fahrzeug der Sicherheitskräfte kommt, öffnet sich der Vorhang und man kann das Buswrack erkennen. „Wie viele Tränen müssen wir weinen?“, ruft sie und klammert sich an ihren Rosenkranz. „Wie viele Herzen von Müttern werden gelähmt sein? Das sind keine Krieger. Welcher Sache dienen sie? Bestimmt nicht der Sache Gottes oder Allahs, denn der Allmächtige schenkt Leben und ist voller Gnade.“ Marie Fatayi-Williams ist von ihrer Familie und Freunden ihres Sohnes umgeben. Die meisten tragen T-Shirts mit dem Aufdruck: „Wie viele noch?“ Als sie ihre Klage beendet hat, ist es für einen Moment um die Contenance der Passanten geschehen. Viele wischen sich Tränen aus den Augen, bevor sie hastig weitergehen.
Fatayi-Williams sagt, ihr Schmerzausbruch sei durch das Schweigen der Behörden ausgelöst worden. „Das ist Anthony Fatayi-Williams, mein Sohn“, sagt sie und zeigt auf das Foto in ihrer Hand. „Er ist mein einziger Sohn. Anthony ist Nigerianer, geboren in London. Er ist ein Weltbürger. Er wird vermisst, und wir befürchten, dass er in dem Bus war, der hier explodiert ist. Fünf Tage danach weiß ich noch immer nicht, was ihm geschehen ist. Ich bin seine Mutter, und ich habe das Recht, es zu wissen. Ich bin am Boden zerstört.“
Die Zahl der Menschen, die am Donnerstag bei den vier Anschlägen ums Leben gekommen sind, lag am Montagabend bei 52, doch die Polizei räumt ein, dass sie auf rund 60 steigen wird. Erst eines der Opfer ist formal identifiziert worden: Susan Levy, eine 53-jährige jüdische Programmiererin aus Hertfordshire. Juden beerdigen ihre Toten gern so schnell wie möglich, gaben die Behörden bekannt, und dem wollte man Rechnung tragen.
Die Verzögerung bei der Identifizierung der anderen Toten liegt an dem traditionellen britischen System, wonach der Tod durch einen Leichenbeschauer vor Gericht bestätigt werden muss. Bei einem Massenmord wie diesem ist dieses System hoffnungslos überfordert. Die beiden Leichenbeschauer, die an den Fällen arbeiten, verlangen die Erfüllung von mindestens drei „Identifizierungskriterien“ – zum Beispiel Fingerabdrücke, Röntgenaufnahmen der Zähne oder Krankheitsbilder. Bis dahin werden die Toten in einer provisorischen Leichenhalle der Artillerie-Kompanie aufbewahrt, die in vier Sektionen unterteilt ist – je eine für die Opfer jeder Explosion, damit man mit Hilfe der Bombensplitter die jeweilige Bombe rekonstruieren kann.
„Es ist die Hölle“
„Wir arbeiten, so schnell wir können“, sagt der stellvertretende Chef der britischen Transportpolizei, Andy Trotter. Er ist Mitte 50, trägt eine Schirmmütze, eine schwarze Uniformhose und ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte. „Es ist ja nicht wie bei einem Fernsehkrimi, wo man jemanden in die Leichenhalle führt, er dann schluchzend über der Bahre zusammenbricht und sagt, das sei sein Vater. Wir müssen uns sicher sein, bevor wir einen Namen herausgeben, und wenn der Leichenbeschauer jemanden identifiziert hat, kann man hundert Prozent sicher sein, dass das stimmt.“
Trotter steht am Bahnhof King’s Cross. Die drei Züge, in denen die Bomben explodierten, sind an dem Donnerstag kurz zuvor durch diesen Bahnhof gefahren. Vor 18 Jahren ist in King’s Cross ein Feuer ausgebrochen, bei dem 31 Menschen ums Leben kamen. Jetzt steht ein paar hundert Meter weiter, auf der Piccadilly Line in Richtung Russell Square, das Wrack des U-Bahn-Waggons, in dem die dritte Bombe hochgegangen ist. Die Piccadilly Line ist die zweittiefste U-Bahn-Linie, sie verläuft 30 Meter unter der Erde. Der Tunnel ist sehr schmal, zwischen Waggons und Tunnelwand sind nur wenige Zentimeter Platz, so dass die Wucht der Explosion nirgendwohin entweichen konnte.
„Wir bergen dort unten keine Leichen, sondern Leichenteile“, sagt Trotter. „Für die forensischen Experten ist es die Hölle.“ Man hat den Tunnel an beiden Enden des Waggons versiegelt, damit keine Spuren verloren gehen. Deshalb herrschen Temperaturen von 60 Grad. „Hinzu kommen Staub und Asbest“, sagt Trotter. „Und die Ratten, tausende von Ratten, die sich über die Toten hermachen.“ Aber dann sagt auch er trotzig, dass man sich von den Anschlägen nicht unterkriegen lassen dürfe, denn das sei es, was die Terroristen wollen.
Die U-Bahn-Betriebe sprechen gar nicht von einem Anschlag. Es habe einen „größeren Zwischenfall“ gegeben, lautet ihre Erklärung für den Ausfall der meisten Linien, die sich unter King’s Cross kreuzen. Alle zwei Minuten wird der Satz über Lautsprecher geschickt. Die Metalljalousien an den U-Bahn-Eingängen sind heruntergelassen.
Die Angehörigen vieler Vermisster haben Plakate an die Jalousien geklebt. „Bitte merken Sie sich dieses Gesicht“, steht auf einem, und auf einem anderen „Haben Sie diesen Mann gesehen?“ Manche Plakate sind professionell am Computer erstellt, mit gestochen scharfem Foto, andere sind handgeschrieben, manche bestehen nur aus einem verschwommenen Foto und der Frage: „Wo ist sie?“ Nebenan, vor einem Pub, hängt ausgerechnet die Bierreklame „Call off the search now“ – „Stellt die Suche jetzt ein“. Ein besseres Bier werde man nicht finden.
Mittags wird der Platz vor dem Bahnhof plötzlich evakuiert, ein großes Polizeiaufgebot riegelt alles ab. Unter der Bank im Wartehäuschen der Bushaltestelle direkt vor dem Bahnhofseingang ist eine herrenlose Tasche gefunden worden. Es ist falscher Alarm, so wie er seit den Anschlägen täglich dutzende Male in britischen Städten ausgelöst wird. „Die Leute sind wachsamer geworden“, sagt Trotter. „Sie melden alles, was ihnen verdächtig vorkommt, besonders natürlich an Orten wie King’s Cross, die von den Anschlägen betroffen waren.“
Der Bahnhof sieht aus, als ob er von den Bomben verwüstet worden ist, aber es ist nur eine Riesenbaustelle. King’s Cross wird modernisiert und mit der ersten neuen britischen Bahnstrecke seit einem Jahrhundert ausgestattet: 2007 soll von hier der Eurostar abfahren und zwei Stunden später in Paris oder Brüssel ankommen.
Am rechten Ende des Bahnhofs, wo sich Euston Road und York Way kreuzen, ist ein kleines Areal mit Backsteinsäulen und einem gusseisernen Zaun abgetrennt. Der Platz ist mit Steinplatten ausgelegt, in der Mitte steht ein kleiner Baum. Der Union Jack am Turm darüber weht auf Halbmast. Eine Funktion hatte dieser Ort noch nie. Es ist, als ob er für eine spätere Verwendung als Gedenkstätte angelegt worden ist. Jetzt bringen die Londoner Blumen und Stofftiere, sie hängen Plakate und Fahnen in Gedenken an die Opfer auf.
180 rassistische Übergriffe
Am Nachmittag legen die Führer der verschiedenen Religionen und Polizeichef Ian Blair gemeinsam einen Kranz nieder und rufen zur Solidarität zwischen den Glaubensrichtungen auf. In den ersten drei Tagen nach den Anschlägen wurden der Polizei 180 rassistische Übergriffe auf Muslime gemeldet, 58 Verbrechen mit rassistischer Motivation wurden registriert. Im selben Zeitraum im vorigen Jahr gab es einen einzigen Fall.
Nach der Kranzniederlegung bittet Ian Blair: „Bitte gebt uns Zeit bei der Identifizierung der Toten.“ Diese Zeit haben die Angehörigen der Vermissten nicht. Die rund 60 Menschen, von denen seit vorigem Donnerstag niemand etwas gehört hat, sind ein Querschnitt des multikulturellen London: Neben Engländern sind es eine Türkin, ein Vietnamese, eine Inderin, ein Ire, eine Polin, ein Franzose, eine Italienerin, eine muslimische Iranerin, eine Mauretanierin, zwei Afrikaner. Graham Russel, der Vater des 28-jährigen Philip, der wahrscheinlich im Bus der Linie 30 saß, sagt: „Wenn ein Verwandter vermisst wird, willst du ihn so schnell wie möglich finden, du willst damit nicht bis morgen warten. Jede Verzögerung ist eine unglaubliche Tortur.“