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Archiv-Artikel

Wenn Kinder andere Kinder quälen

Sexuelle Gewalt unter Kindern ist in Nordrhein-Westfalen keine Seltenheit. Immer öfter wenden sich Erzieher und Eltern deswegen an Beratungsstellen. Neu ist das Phänomen nicht, sagen Experten, aber lange Zeit wurde es ignoriert

„Doktorspiele sind ganz normal, aber wenn Kinder Druck erzeugen, muss man etwas unternehmen.“

KÖLN taz ■ Die Frauenberatungsstelle Jülich schlägt Alarm: Immer häufiger berichten Erzieherinnen von sexueller Gewalt unter Kindergartenkindern, sagt Beraterin Helga Ronda. Auch beim Zartbitter e.V. in Köln, einer Informations- und Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch, melden sich seit rund eineinhalb Jahren immer mehr Erzieherinnen und Eltern, die sexuell gewalttätige Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter beobachten, bestätigt Bernd Eberhardt, Berater und Therapeut. Fast jede Woche bekomme Zartbitter besorgte Anrufe, vor allem aus Köln, aber auch aus anderen NRW-Städten.

Im Extremfall kann es soweit kommen, dass fünf- bis sechsjährige Kinder Gleichaltrige oder Jüngere an den Genitalien verletzen, schlagen oder bedrohen, damit sie sexuelle Handlungen – etwa orale Stimulation – zulassen. Andere Kinder fügen ihren Altersgenossen zwar keine Gewalt zu, zeigen aber beim Spielen „ausgesprochen starke sexuelle Phantasien“, erzählt Agnes Altena-Kohn von der Caritas-Beratungsstelle im münsterländischen Warendorf. „Man muss dann sehr genau recherchieren: Was bewegt ein Kind dazu?“

Dabei stellt sich häufig heraus, dass Kinder, die zu sexueller Gewalt oder extremen Gewaltfantasien neigen, zuvor selbst Opfer oder zumindest Zeugen von sexueller Gewalt geworden sind, sagen Eberhardt und Altena-Kohn. „Der Umkehrschluss, dass missbrauchte Kinder später andere missbrauchen, ist aber auf keinen Fall zulässig“, stellt Eberhardt klar.

Dass „massive Übergriffe mit Zwang und Nötigung“ in den letzten Jahren mehr geworden sind, glaubt Eberhardt allerdings nicht. „Man hat es vorher einfach nur nicht bemerkt oder mangels Problembewusstsein als harmlose Spielereien abgetan.“ Auch die Jülicher Beraterin Ronda glaubt, dass das Thema „bislang einfach zu tabuisiert“ war – und inzwischen von Erziehern und Eltern mehr wahrgenommen wird.

Gestiegen ist allerdings laut Eberhardt die Zahl der Kinder, die zumindest ein stark „sexualisiertes Verhalten“ an den Tag legen. Das könne sich etwa in öffentlicher Selbstbefriedigung, dem Zeigen der Genitalien oder „grenzverletzenden Doktorspielen“ zeigen. Die Ursache hierfür sieht er vor allem einer zunehmenden Konfrontation der Kinder mit Erwachsenensexualität vor allem über die Medien.

Für Kindergärtner stellt sich damit zunehmend das Problem, wie sie mit sexuell auffälligen oder gar übergriffigen Kindern umgehen sollen. Leider, bedauert Eberhardt, „ist das Thema bislang in Deutschland nicht in der Erzieher-Ausbildung angekommen“. Es gebe auch keine allgemeinen Regeln, wie weit Doktorspiele gehen, was als „normale kindliche Sexualität“ zugelassen werden kann – oder sollte. Dass bei Erzieherinnen ein gestiegener Informationsbedarf besteht, hat auch Altena-Kohn registriert. „Es wird immer häufiger gefragt, was eigentlich normal ist.“ Erzieher seien verunsichert, auch weil sich die gesellschaftlichen Vorstellungen über kindliche Sexualität immer wieder änderten. Um daher wirklich beurteilen zu können, ob ein Kind sexuell „zwanghaft und grenzüberschreitend“ ist oder nur „normale“ Phantasien auslebt, müsse man es intensiv beobachten und „den ganzen Kontext der Persönlichkeit und des Umfelds“ einbeziehen, erklärt Altena-Kohn. Auch Sigrid Buber von der Diakonie-Beratungsstelle „Gewalt in Familien“ in Düsseldorf betont, wie wichtig ein differenzierter Blick ist: „Doktorspiele sind ganz normal, aber wenn Kinder Druck erzeugen, anderen Angst machen oder Gewalt anwenden, muss man etwas unternehmen.“

In solchen Fällen sind Erzieher und Eltern auf externe Hilfe angewiesen. Und inzwischen gibt es in verschiedenen NRW-Städten ambulante und stationäre Behandlungsmöglichkeiten. 2001 startete das Land NRW sogar ein Modellprojekt, in dem 300 sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche in fünf Einrichtungen über drei Jahre therapeutische Hilfe bekamen, erzählt Buber. Die Täter seien im Alter zwischen sechs und 24 Jahren gewesen. „Damit haben wir jetzt erstmals wissenschaftliche Erkenntnisse über sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen aus Zusammenhängen hier vor Ort.“ Zuvor habe man sich überwiegend auf Erfahrungen aus dem Ausland stützen müssen, weil das Problem in Deutschland bislang vernachlässigt worden sei, so Buber. „In den USA gab es schon vor 20 Jahren Ratgeber für Eltern.“ Den muss man sich ab sofort nicht mehr mühsam übersetzen. Als erstes Ergebnis des NRW-Modellprojekts hat das Jugendministerium – das inzwischen „Generationenministerium“ heißt – gerade einen eigenen Ratgeber für den Umgang mit sexuell auffälligen Jungen herausgegeben. In den nächsten Tagen soll die Auswertung des Modellprojekts vorgestellt werden. SUSANNE GANNOTT