: Den Tanz für dieZukunft sichtbar machen
Das Tanzfilminstitut in Bremen hat den Deutschen Tanzpreis 2021 gewonnen. Der Preis würdigt dieses Jahr jene, die in der Tanzszene gesellschaftspolitische Fragen verhandeln
Von Florian Maier
Politisch wollte sie sein, die Jury des Deutschen Tanzpreises 2021. Für vier Preisträger:innen hat sie sich entschieden, die den zeitgenössischen Tanz verändern wollen. Heide-Marie Härtel, Tänzerin und Gründerin des Deutschen Tanzfilminstitutes in Bremen, wurde dabei mit dem Hauptpreis ausgezeichnet.
Mit dem Deutschen Tanzpreis würden überragende Persönlichkeiten des Tanzes in Deutschland geehrt, so die Aussage der Veranstaltenden. Dabei liege der Fokus nicht nur auf dem Tanz selbst sondern auch auf dem kulturpolitischen Engagement der Preisträger:innen.
„Ich habe 1988 das Institut an der Universität Bremen gegründet“, so Härtel. Dort habe man ihr Räumlichkeiten gestellt. Doch schnell wurden die Räume dort zu klein. Das Institut wuchs zu einem Archiv heran, mit mittlerweile 40.000 Dokumenten zu Tanzwerken. Mittlerweile ist das Tanzfilminstitut nicht mehr in der Universität, sondern im Stadtzentrum zu finden
Von Beginn an funktioniert das Deutsche Tanzfilminstitut auch als Produktionsstätte für audiovisuelle Tanzdokumente. „Wer hätte gedacht, dass man mit einer Kamera aus der städtischen Pfandleihe so weit kommen kann“, sagt Härtel, die selbst bei vielen Werken Regie führte oder als Kamerafrau tätig war.
Preis an der Schnittstelle von Gesellschaft und Tanz
Sie versuche dem Tanz durch die filmische Aufzeichnung neue Möglichkeiten der Sichtbarkeit und Repertoirepflege zu geben. „Viele zeitgenössische Tanzstücke müssen aufgezeichnet werden, um eine Wiederaufführbarkeit zu garantieren. Im klassischen Ballett werden meist die Choreografien von den Tänzer:innen über Generationen weitergegeben, bei den kurzlebigen, zeitgenössischen Stücken braucht man andere Übertragungswege“, so Härtel.
Die Jury wies mit der Auszeichnung darauf hin, dass mit der Gründung des Deutschen Tanzfilminstituts ein außergewöhnlicher Beitrag für das immaterielle Kulturerbe Tanz und die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes geleistet wurde. „Denn ohne die Dokumente künstlerischer Entwicklungen entbehrt der Tanz seiner Geschichte und seines politischen Kontextes“, so die Begründung der Jury.
Die Verleihung ist geprägt von einer Art Aufbruchsgeist. Weitere Preisträger:innen sind Adil Laraki, Ursula Borrmann und Claire Cunningham; sie alle haben die Absicht, den zeitgenössischen Tanz zu ändern. Laraki, bekannt als der „Theaterrechtler aus Essen“, organisierte Demos und war zudem gewerkschaftlich tätig. Sein Fokus liegt dabei stets auf den Rechten von Künstler:innen sowie der Verbesserung der Arbeitsbedingungen an deutschen Theatern.
Ursula Borrmann hingegen entwickelte neue Lehrstandards an Ballettschulen. Ihrer Ansicht nach solle „Klassischer Tanz den Kitsch verlieren“. Man müsse weg vom Drill für Kinder und diese eher dabei unterstützen, eine eigene Persönlichkeit zu bilden. Das funktioniere nur mit Bildung und Aufklärung. Tanz solle dabei Werte vermitteln – und keiner dieser Werte dürfe Drill sein, der „Vierjährige bereits zum Tanzen auf der Spitze zwingt“.
Die jüngste Ausgezeichnete ist die Tänzerin und Choreografin Claire Cunningham. Sie bezeichnet sich selbst auf Grund ihrer Knochenkrankheit Osteoporose als körperbehindert. Ihre Performances absolviert sie auf Krücken, wodurch sie das Bild des klassischen Tanzes bricht. Sie will physische Diversität auf Bühnen zeigen und den Tanz für nicht normative Körper öffnen.
Die Frage, ob in diesem Jahr die Entscheidung für die Kandidat:innen besonders politisch geprägt war, verneinte Jurymitglied Nina Hümpel dennoch. Nicht weil der Tanzpreis 2021 nicht politisch, sondern weil das nichts Neues sei: Bereits in den letzten Jahren hätte der Preis ein breites Spektrum an verschiedenen Formen abgebildet, auch von politischem Tanz. Politisches Denken sei zwingend notwendig, um den zeitgenössischen Tanz weiterzuentwickeln.
Adil Laraki verweist auf die rasante Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in den vergangenen 40 Jahren. Tänzer:innen sollen heute die Möglichkeit haben, Persönlichkeiten zu sein und nicht nur reine Objekte, die vorgegebene Choreografieschritte nachahmen. Man müsse das Selbstbewusstsein von Tanzenden stärken, so Laraki.
Dies bekräftigt auch Härtel. Die Zeiten, in denen Tänzer:innen nur als Material gesehen werden, seien lange vorbei. Institutionen wie das Tanzfilminstitut gäben die Möglichkeit, aus bereits gesammeltem Wissen zu zehren und neue Möglichkeiten des Tanzes auszuschöpfen.
Begründung der Jury
Die tatsächliche Lage in der Tanzszene ist prekär
Die Realität indes sieht entgegen dem Anspruch von Jury und Preisträger:innen oft immer noch düster aus. Corona hat die Situation nicht verbessert, sondern vielerorts zu noch schwierigeren Arbeitsbedingungen geführt. Das vergangene Jahr hat massiv an den Kraftreserven der Tanzszene gezehrt. Durch fehlende Auftritts- und Probemöglichkeiten herrscht wie in vielen Bereichen der Kultur Stillstand.
Doch auch ganz ohne Pandemie ist die Lage für Tanzende prekär: Von demokratischen Strukturen, die Claire Cunningham für Inszenierungen fordert, ist die Tanzszene weit entfernt: Die Theaterlandschaft ist in weiten Teilen von hierarchischen Strukturen durchzogen, die Arbeitsbedingungen sind weiterhin prekär. Schlechte Bezahlung und lange Arbeitstage werden oft mit Sparmaßnahmen und der Vorstellung von der armen, aber doch glücklichen Künstler:in gerechtfertigt.
Der Tanzpreis setzt mit seiner Wahl ein Zeichen dagegen. Die Auszeichnung aller Preisträger:innen zeigt eine große Bandbreite an politischer Möglichkeit im Tanz. Wohin die Reise geht, auch in Zeiten der Pandemie, weiß niemand. Härtel findet jedenfalls: „Wir müssen heute neue Formate für den Tanzfilm im Digitalen finden, damit dieser in den Wohnzimmern angeguckt werden kann.“
Bis zur großen Preisverleihung im Oktober im Aalto-Theater in Essen ist es noch eine Zeit hin. Ob Corona eine Veranstaltung mit Publikum zulässt, wird sich zeigen, einen Livestream gibt es auf jeden Fall.
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