: Der Islamist, das unerforschte Wesen
Weil die Polizei Selbstmordanschläge kaum verhindern kann, geht das Bundeskriminalamt neue Wege: In einer Forschungsstelle fahnden Wissenschaftler nach Grundlagen für seriöse Präventionsmodelle gegen islamistischen Terrorismus
AUS WIESBADEN ASTRID GEISLER
Konspirativer geht es kaum. Ein Gewerbegebiet in Mainz-Kastel. Autohäuser, Lagerhallen, Parkplatzreihen, Bauzäune, irgendwo dazwischen ein Bürohaus, das nicht weiter auffällt, vor lauter Chaos rundherum. Man könnte die Anlage als TV-Kulisse für eine Terroristenrazzia empfehlen. Wäre sie nicht bereits langfristig vergeben – an die Gegenseite.
Hinter Schleusen, die sich nur sicherheitsgeprüften Gästen öffnen, forschen Wissenschaftler seit einigen Monaten nach Alternativen im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Das Gebäude ist eine Außenstelle des Bundeskriminalamtes, hier sitzt die neue hauseigene „Forschungsstelle Terrorismus Extremismus“ (FTE). Die bisher fünfköpfige, interdisziplinär besetzte Gruppe soll ein wissenschaftliches Fundament schaffen für das, was man sich seit den Attentaten in London auch in Deutschland mehr denn je wünschen muss – aber bisher kaum vorstellen kann: Prävention. Projekte, die den Nachwuchs taub machen für die Lockrufe der Missionare des Terrors.
Auch bei den Sicherheitsbehörden ist inzwischen allen klar: Weder Polizei noch Geheimdienste können verhindern, dass sich unauffällige Teenager mit Rucksäcken voller Sprengstoff in die U-Bahn setzen. BKA-Chef Jörg Ziercke erhofft sich von den Forschern deshalb nicht weniger als wissenschaftlich abgesicherte Grundlagen für die Frage, wie man „unter Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte potenziell gewaltbereiten Terroristen in Deutschland den Nährboden entziehen“ kann.
Man muss allerdings nur eine Weile den Ausführungen des Projektleiters folgen, dann ahnt man – diese Herausforderung ist nicht gerade klein. „Wir machen Grundlagenforschung, aber mit konkretem Anwendungsbezug“, sagt Uwe Kemmesies, 41 Jahre, promovierter Sozialwissenschaftler. Geeignete Präventionsmodelle könne man jedoch erst entwerfen, wenn man das „Phänomen“ verstanden habe.
Wie schwierig es ist, Hypothesen über dieses „Phänomen“ durch solide Erkenntnisse zu ersetzen, zeigt eine Biografien-Studie der FTE in Zusammenarbeit mit der Universität Duisburg-Essen. Die Wissenschaftler sollen jeweils zehn verurteilte linke, rechte und islamistische Gewalttäter zu ihren Lebensläufen befragen. Ihre Annahme: In den Biografien könnte es mehr vergleichbare Weichenstellungen auf dem Weg ins Abseits geben als bisher vermutet.
Die ersten Protokolle von Gesprächen mit Rechtsextremen sind bereits so gut wie fertig. Doch für die Islamisten-Interviews gibt es bisher, wie Kemmesies einräumt, nicht einmal zehn Kandidaten, die in Frage kämen. Vermutlich müsse man deshalb eine alternative Stichprobe zusammenstellen – zum Beispiel aus einschlägigen Islamistenmilieus.
Vor solchen Schwierigkeiten stehen nicht nur die Fachleute im BKA. Auch in anderen Ländern sei die Arbeit nicht weiter, versichert Kemmesies. Und verglichen mit Kollegen an den Universitäten arbeitet die FTE in der Tat unter Idealbedingungen: Sie kann direkt auf die Datensammlungen der Polizei zurückgreifen und soll mit etwa zehn festen Mitarbeitern in absehbarer Zeit eine geradezu üppige Personalausstattung bekommen.
Nur: Wann und wie wird sich die Forschungsarbeit in den von BKA-Chef Ziercke herbeigesehnten passgenauen Präventionsmodellen niederschlagen? Schließlich lässt das Stichwort „Prävention“ der Fantasie viel Platz. Vom Einsatz islamkundiger Streetworker in Problemvierteln bis hin zu einer anderen Außenpolitik ist allerhand denkbar.
Die Vertreter der FTE halten sich da bedeckt: Sie wollen die Grundlagen klären, die praktischen Folgerungen aber anderen überlassen, zum Beispiel den Kollegen in speziellen Präventionsfachstellen der Polizei.
Aus gutem Grund: Ihr Studienobjekt mutiert unablässig, es stellt die Wissenschaftler vor immer neue Fragen. Auf die es keine schnellen Antworten gibt. Beispiel London: Was lässt muslimische Teens und Twens zu Selbstmordattentätern werden? Wie viele gibt es überhaupt, die mit aktiviertem innerem Zeitzünder herumlaufen?
Die Wissenschaftler sitzen vor weißen Blättern. Und auf den Zetteln dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit auch dann noch nicht viel stehen, wenn die nächste lebende Bombe in einer europäischen Metropole detoniert. Denn die aktuelle Studie zu Extremisten-Biografien wird zwangsläufig nichts über die Brüche und Weichenstellungen im Leben von Selbstmordattentätern verraten. „Den ‚erfolgreichen‘ Selbstmordattentäter“, sagt Projektleiter Kemmesies, „kann schließlich niemand mehr befragen.“ Simple Verallgemeinerungen und Typologien nach dem Muster „jung, arm, ungebildet“ hält der Soziologe für unseriös. Nötig wäre also ein neues Forschungsdesign. Kein Wunder, wenn der Extremismusforscher zwischendurch etwas murmelt, das verdächtig klingt wie: „So viel Arbeit!“