: Offensichtliche Verführung
Zauberfrühstücke, Geheimhaltungsmaßnahmen, Erfolgszahlen und Eltern, die ihre kaum dreijährigen Sprösslinge in Englischkurse schicken: Heute erscheint der sechste „Potter“-Band im Original, „Harry Potter and the Half-Blood Prince“, und wieder einmal stehen die Welt und der Buchmarkt Kopf
von GERRIT BARTELS
Bei Dussmann in Berlin ist man spät dran am heutigen Samstag, da die englische Ausgabe des sechsten „Harry Potter“-Bandes erscheint. Erst um 7.45 Uhr eröffnet das vermeintliche „Kulturkaufhaus“ in der Friedrichstraße und lädt zu einem „Zauberfrühstück“, bei dem Dussmann-Mitarbeiter in „Potter“-Kluft heiße Getränke und Croissants (gegen Entgelt, versteht sich) servieren, die Schauspielerin Tanja Neufeld neue „Potter“-Geschichten vorliest und das Buch für 19,90 Euro erworben werden kann.
In Großbritannien gibt es dagegen zu dieser Zeit schon tausende von „Potter“-Fans, die den neuen Band mindestens eineinhalbmal gelesen haben, da hier die Buchhandlungen eine Minute nach Mitternacht ihre Pforten zum „Potter“-Verkauf öffneten, und auch in Berlin und anderen deutschen Städten dürfte es schon genug Bescheidwisser geben, wollte doch der Online-Buchhändler Amazon erste Exemplare zwischen ein und drei Uhr nachts ausliefern lassen.
Im Grunde ist es spätestens seit dem zweiten Band „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ im Jahr 1999 jedes Mal derselbe Zauber, der eine „Potter“-Veröffentlichung begleitet. Buchhandlungen übertreffen sich mit immer wieder neuen Marketingaktionen, die jeweiligen Verlage mit immer wieder neuen Geheimhaltungsmaßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen (bombensichere Buchcontainer!), und die angeschlossenen Medien begleiten das mit entsprechenden, selbstredend jedes Mal höheren Erfolgszahlmeldungen und anderen Geschichtchen – etwa dass der neue Papst J. K. Rowlings Bücher schon 2003 als „subtile Verführungen“ bezeichnete, wie die italienische Zeitung La Repubblica herausfand; Verführungen, so der Papst weiter, „die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte“.
Da wird er noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen, der gute Benedikt XVI.: Für „Harry Potter and the Half-Blood Prince“, der heute gleichzeitig in Großbritannien, den USA, Südafrika, Kanada, Australien, Neuseeland, Deutschland und noch einigen anderen Ländern erscheint, meldete Amazon 1,4 Millionen Vorbestellungen, davon 110.000 in Deutschland; der amerikanische „Harry Potter“-Verlag Scholastic geht mit einer Auflage von 10,8 Millionen Exemplaren auf den US-Markt, die größte Auflage für einen Titel weltweit und ever; und kein Prophet muss man sein, um sehen zu können, dass nach den fünf Wochen, die vor zwei Jahren der fünfte „Potter“ im Original in der Spiegel-Bestsellerliste auf Platz eins stand, auch die englische Ausgabe des sechsten Bandes keine Mühe haben wird, in Deutschland Donna Leon und Dan Brown problemlos für einige Wochen aus dem Feld zu schlagen – der englische „Potter“-Verlag Bloomsbury, der in diesen Tagen große Anzeigen in den Feuilletons von SZ, FAZ oder der Zeit geschaltet hat, rechnet erneut mit gut einer halben Million Exemplare, die vom Original in Deutschland abgesetzt werden können, bevor am ersten Oktober die deutsche Übersetzung in einer Auflage von zwei Millionen erscheint.
Ein goldener Sommer für Buchhändler und Bloomsbury, könnte man meinen. Doch überschattet wird das heutige Ereignis nicht nur von den rüden Methoden, mit denen sich der kanadische „Potter“-Verlag Raincoast in Vancouver hervortat. Dort hatte ein vermeintlich ahnungsloser Verkäufer schon einmal 14 (!) Exemplare von „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ in die Regale seines Buchladens gestellt, die flugs verkauft wurden. Raincoast machte die Käufer ausfindig, zerrte sie vor Gericht, zwang sie zur Buchrückgabe und verpflichtete sie zu Stillschweigen über die Handlung.
Vor allem aber machen gerade die deutschen Buchhändler mit dem Original-„Potter“ keinen Gewinn. Von Bloomsbury mit einem Ladenpreis von 24,90 Euro empfohlen, verkaufen Hugendubel, Thalia oder Amazon die Ausgabe für unter 16 Euro – die deutsche Buchpreisbindung gilt nicht für ausländische Bücher. Da wird bretthart kalkuliert und verdrängt, da liegt es auf der Hand, dass es sich die Buchhandelsketten viel eher als kleine Buchhändler leisten können, knapp über dem Einkaufspreis die Bücher zu veräußern – und da fällt es leicht, sich zu überlegen, wie es aussieht, wenn die Buchpreisbindung doch einmal fallen sollte: Rabattschlachten, die Großen fressen die Kleinen mit noch mehr Genuss, die Titel in den Buchhandlungen werden noch weniger, und die lieben Kleinen können „Potter“-Bücher und noch mehr „Potter“-Bücher und sonst nichts kaufen.
Ganz so weit ist es noch nicht, und noch freut sich die gesamte, und wie man vorgestern von Börsenvereinsvorsteher Schormann wieder erfahren durfte, nicht wirklich erfolgreiche und nur durch SZ- und Bild-Bibliotheken in leicht schwarzen Zahlen operierende Branche auf den Herbst, wenn ihr die deutsche Ausgabe von „Potter VI“ die Bilanzen und das Weihnachtsgeschäft rettet. Einmal mehr setzt man da auf eine Aussage, die vor zwei Jahren Nina Hugendubel dem Spiegel gegenüber machte: „Die meisten Kinder können doch gar nicht so gut Englisch, dass sie alles mitbekommen, die wollen doch alles noch einmal auf Deutsch nachlesen.“
Nur könnte auch das eine trügerische Hoffnung sein, fangen Kinder doch inzwischen nicht mehr erst in der dritten oder fünften Klasse mit dem Englischlernen an. Für ehrgeizige und keineswegs bilingual erziehende Eltern in Berlin-Prenzlauer Berg etwa gehört es zum guten Ton, ihre kaum drei Jahre alten Sprösslinge in Englischkurse oder deutsch-englische Kitas zu schicken. Wenn diese Kinder dem Bildungsdruck ihrer Eltern standhalten, dürften sie über die „Potter“-Übersetzungen nur müde lächeln.