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Archiv-Artikel

„Der Gipfel der Ignoranz“

AFGHANISTAN Der Grüne Winfried Nachtwei fordert, Deutschland müsse 2.500 zusätzliche afghanische Polizisten bezahlen. Wenn die Isaf-Truppen jetzt rausgingen, drohe die Gewalt wieder schnell zu eskalieren

Winfried Nachtwei

■ 63, ist Verteidigungs- und insbesondere Afghanistan-Experte der Grünen-Bundestagsfraktion, aber nur noch wenige Tage. Aus Gründen der familiären und sozialen Reintegration ist er zur anstehenden Bundestagswahl nicht mehr angetreten.

taz: Herr Nachtwei, Sie kommen gerade aus Nordafghanistan. Welche Botschaft bringen Sie mit?

Winfried Nachtwei: Es wäre ganz falsch zu sagen, weil sich die Sicherheitslage verschlechtert, muss auch der Aufbau jetzt leider aufhören. Wir waren in Badakschan, dem bettelarmen Nordostzipfel Afghanistans. Ich konnte nicht feststellen, was manche hierzulande behaupten, dass es keine sinnvollen Projekte mehr zu finanzieren und zu bemannen gäbe – im Gegenteil. Wir müssen da jetzt voll hineingehen und Unterstützung anbieten. Am Lehrerausbildungszentrum in Faizabad studieren jetzt 1.800 Leute. Da wird gerade der Unterricht vom Zweischicht- auf einen Dreischichtbetrieb umgestellt. Und wenn man dort als Internationaler erkennbar in Fahrzeugen bewegt – siehe da, dann winken die Leute auch fröhlich.

Auch in Kundus, wo jüngst Bomben auf Tanklaster und Zivilisten fielen?

Da war ich nicht – die haben genug zu tun, da muss kein Bundestagsabgeordneter noch herumspringen. In wenigen Tagen wird der Nato-Untersuchungsbericht zu dem Vorfall vorliegen, dann werden wir mit dem Verteidigungsausschuss auch im Nachwahltrubel zusammentreten und das ordentlich diskutieren.

Die Sicherheit ist jetzt auch im Norden das Hauptproblem.

Natürlich. Die Aufbaugeschwindigkeit bleibt hinter der Verschlechterungsgeschwindigkeit zurück. Besonders bedenklich ist, dass Dorfälteste in der Provinz Kundus zum ersten Mal gestanden, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Taliban und die Aufständischen haben. Sechs Flecken in der Region Kundus wurden mir auf der Karte als No-go-Areas bezeichnet, und das war nicht mehr nur der berüchtigte Bezirk Chardara. Der Kommandeur der Isaf-Truppen im Norden Jörg Vollmer spricht von einem Scheibenwischereffekt: Wo die Bundeswehr hinein geht, verschwinden die Taliban – kommen aber sofort wieder.

Will er auf diese Weise mehr Soldaten fordern?

Weniger. Er verlangt vor allem 2.500 mehr afghanische Polizisten. Diese müssten von der Bundesregierung direkt bezahlt werden – wie es jetzt auch die Briten in Helmand machen. Ich verlange, dass die Bundesregierung die notwendigen rund 9 Millionen Dollar für zwei Jahre investiert. Diesen Vorschlag Vollmers einfach wegzuwischen, wie es die Bundesregierung bislang tut, ist angesichts der galoppierenden negativen Entwicklung der Gipfel der Ignoranz. Gegenwärtig gibt es in der gesamten Provinz Kundus – die größer als Rheinland-Pfalz ist – 1.194 Polizisten.

Ihre Partei wird sich auf dem Parteitag im Oktober wieder über Afghanistan streiten …

Ich kann nur die Dorfältesten in Badakschan zitieren. Die sagen: Wir brauchen euch noch. In Kundus werden schon wieder Waffen an Zivilisten ausgegeben, auch an ehemalige Bürgerkriegskommandeure. Die Bevölkerung rüstet auf. Wenn die Isaf-Truppen jetzt rausgingen, ginge es sehr schnell extrem zur Sache.

Mit dieser Begründung – dass die Afghanen übereinander herfallen, wenn Isaf geht – perpetuiert man den Einsatz.

Deshalb brauchen wir dringend energische Aufbauziele und eine militärische Abzugsperspektive in wenigen Jahren. Die Bevölkerung hier wie die Soldaten dort haben einen Anspruch darauf. Die Bundesregierung muss endlich eine ehrliche Einschätzung der Lage in ihrem Verantwortungsbereich verfassen. Warum wird es im Norden so schnell schlechter, und was gedenkt Deutschland dagegen zu tun? Man kann sich nicht immer nur hinter den USA verstecken und hoffen, dass im Norden nichts passiert. Das funktioniert offensichtlich nicht. INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN