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Archiv-Artikel

„Nichts ist schwarzweiß“

ERWEITERUNG Dem „Exil“ widmen sich die diesjährigen Sommerlichen Musiktage Hitzacker. Mordende Renaissance-Komponisten zu präsentieren, ist für Leiterin Carolin Widmann kein Widerspruch

Von PS
Carolin Widmann

■ 35, Violinistin, widmet sich vor allem zeitgenössischer Musik. Seit 2006 Professorin an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Leitet in diesem Jahr erstmals die Sommerlichen Musiktage Hitzacker.

taz: Frau Widmann, im Programmheft steht: „Beethoven in Taubheit, Schumann vor der Einweisung in die Nervenheilanstalt“ – damit werde das Festival-Thema umrissen. Ist das Exil denn eine Krankheit?

Carolin Widmann: Nein. Natürlich bedeutet Exil zunächst die erzwungene Heimatsuche in der Fremde. Aber mir war wichtig, den Exil-Begriff zu erweitern, den wir Deutschen vor allem mit dem Dritten Reich verbinden. Und man kann die Taubheit eines Komponisten durchaus als Exil auffassen. Auch die Verweigerung der vorherrschenden Ästhetik kann Exil sein.

Der Renaissance-Komponist Carlo Gesualdo lebte als Mörder im Exil, der Prager Erwin Schulhoff starb 1942 im deutschen Internierungslager. Genügen tragische Komponistenbiographien, um das Exil zu illustrieren?

Nein. Aber mir ist aufgefallen, wie viele Künstler im Laufe der Jahrhunderte vom Exil betroffen waren – auch innerhalb Europas. Und als während der Planung die Euro-Krise begann, wurde mir bewusst, wie lange wir Europäer schon Frieden in Europa haben und wie lange hier schon niemand mehr verfolgt wird.

Sie nennen Schostakowitsch einen Exilanten im eigenen Land. Aber er hat sich ja teils mit Stalins Regime arrangiert.

Ja, da gibt es sehr interessante Biographien, und nichts ist schwarzweiß. Thomas Mann zum Beispiel hat anfangs mit den Nazis sympathisiert und galt am Ende seines Lebens ja als Exil-Schriftsteller. Auch diese fließenden Übergänge sollten bei uns Thema sein.

Sie haben auch die britische Komponistin Rebecca Saunders eingeladen, die in Deutschland lebt – im „ästhetischen Exil“. Was bedeutet das?

Dass sie sich in England immer unverstanden fühlte. Irgendwann hat sie von Wolfgang Rihm gehört und gedacht: Er macht genau, was ich will, bei ihm will ich studieren, denn so jemanden finde ich in England nicht. Das hat sie dann getan. Und sie ist ja inzwischen extrem erfolgreich in Deutschland.

In England nicht?

Sie hat prestigeträchtige Aufträge, das schon. Aber die Menschen identifizieren sich nicht mit ihr. Ich habe elf Jahre in England gewohnt und immer wieder erlebt, dass die Leute den Kopf schüttelten und sagten, das ist die Verrückte, die in Deutschland so erfolgreich ist. Will sagen: Sie ist keine Nationalheldin wie Thomas Adès. Der ist einer von ihnen, da haben die Engländer Tränen in den Augen.

Im Festivalprogramm findet sich auch ein Vortrag über Exil und Glück. Ein Gegensatz?

Auch das ist natürlich nicht schwarz und weiß. Es gibt aber viele Beispiele von Künstlern, die im Exil nicht glücklich waren. Selbst Wolfgang Korngold, der in Hollywood viel Geld mit Filmmusiken verdiente, hat sich dort künstlerisch immer unverstanden gefühlt. Als er nach Wien zurückging, hat sich auch dort niemand für seine Arbeit interessiert – inneres Doppel-Exil sozusagen. Auch Brecht hat Deutschland aus dem Exil heraus plötzlich viel positiver gesehen. Auch diesen Unschärfen werden wir nachspüren.  INTERVIEW: PS

Sommerliche Musiktage Hitzacker: Eröffnung morgen, bis 5. August. www.musiktage-hitzacker.de