: Früh vollendet, spät gezündet
Hüter der Verwandlungen, ständig verstrickt im intellektuellen Kampf mit dem Tod: Zum 100. Geburtstag von Elias Canetti am Montag liegen die erste Biografie und ein Bildband zu Leben und Werk des Nobelpreisträgers und geplagten Paschas vor
VON OLIVER PFOHLMANN
Er war der Herr der Bleistifte. Gespitzt und pedantisch nach ihrer Größe geordnet, lagen immer bis zu 40 Stück auf seinem Schreibtisch. Die Gewissheit, dass ihm sein Schreibgerät im Schaffensrausch nicht ausgehen würde, war ihm wichtig. Vermutlich ebenso, mit den Bleistiftkolonnen Besucher beeindrucken zu können. „Zwanzig Bleistifte abgeschrieben, in einer Nacht“, heißt es einmal im Nachlass des großen Übertreibungskünstlers. „Man könnte denken, dass ich etwas tue.“ Die längste Zeit seines Lebens war der am 25. Juli 1905 im bulgarischen Rustschuk als Sohn sephardischer Juden geborene Elias Canetti eine Art Geheim-Genie ohne Werk. Nur Eingeweihte kannten seine Bedeutung. Sich dem Publikationszwang verweigernd, der seine künstlerische Reinheit befleckt hätte, bekannte er hochmütig seine „Verachtung für Leute, die ihren Erfolg nicht bald abzuwürgen verstehen“. Schon 1928 will er sich als literarischer Nobody in Berliner Kaffeehäusern mit Bertolt Brecht angelegt haben, weil der sich und seine Kunst verkaufte. Canetti blieb bis Ende der Sechzigerjahre lieber auf Zuwendungen von Angehörigen oder Geliebten angewiesen. Zur Freigabe selbst marginaler Auftragsarbeiten musste ihn seine erste Frau Veza geradezu nötigen, mitunter drohte sie mit Scheidung.
Dass es nach Erscheinen seiner Stücke „Hochzeit“ und „Komödie der Eitelkeit“ und seines grandiosen Romansolitärs „Die Blendung“ im Wien der Dreißigerjahre noch mehr als drei Jahrzehnte dauerte, bis Canetti berühmt war, lag gewiss nicht allein an den Zeitläuften, die ihn aller Fiktion abschwören ließen. Im englischen Exil brütete der von einer grenzenlosen anthropologischen Neugier angetriebene Menschensammler über seiner Theorie der Masse, als wäre ausgerechnet seine Lebenszeit nicht begrenzt. Noch in seinen letzten Lebensjahren kündigte Canetti vollmundig neue Romane an, ebenso eine Fortsetzung seines 1960 endlich doch erschienenen Riesenessays „Masse und Macht“, mit dem er sein „Jahrhundert an der Gurgel zu packen“ suchte, und, natürlich, seine definitive Anklageschrift gegen seinen größten Feind, den Tod. Leser seiner Autobiografie, die Canetti 1981 den Nobelpreis bescherte, wissen: Seiner eigenen Bedeutung war sich der Monomane stets und schon früh gewiss.
Dass er auch Selbstzweifel hatte, dass er seinen berüchtigten bösen Blick ebenso auf sich selbst richten konnte, erfährt man erst jetzt, nach Ablauf der ersten von ihm verhängten Sperrfrist für den in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrten Nachlass. Sven Hanuschek hat nun als Erster die über hundert Schachteln voller Materialien, Entwürfe und Verworfenem erkundet, hat auch das, wie er es nennt, „Zentralmassiv“ Canettis bestiegen: all die Hefte mit den in mehr als fünfzig Jahren nahezu täglich verfassten „Aufzeichnungen“. Von diesen abertausenden von funkelnden Aphorismen, abgründigen Gedankenexperimenten und waghalsigen Selbsterkundungen ist bislang nur etwa ein Zehntel publiziert; für Hanuschek bilden sie das eigentliche Hauptwerk des „Hüters der Verwandlungen“.
Das Allerheiligste blieb dem Biografen allerdings verschlossen, nämlich der noch bis 2024 gesperrte lebenslängliche Dialog Canettis mit dem „grausamen Partner“ Tagebuch. Hanuscheks Pionierarbeit verrät: Privatim lamentierte Canetti unentwegt darüber, dass sein Schreiben keine greifbaren Ergebnisse mehr zeitigte. Er erteilte sich selbst Arbeitsaufträge, um sie dann doch nicht auszuführen, beschimpfte sich als „brunnenfaul“ und rechtfertigte sich am Ende mit der wenig tröstlichen Einsicht, eben kein Künstler zu sein.
Hanuscheks Biografie bietet jedoch auch eine einleuchtende Erklärung für dieses literarische Desaster: Es war vor allem das im englischen Hampstead seit den Vierzigerjahren von Canetti selbst geknüpfte Beziehungsnetz, das sich verselbstständigte und den Autor zunehmend lähmte. Da spielte Canetti, erstaunlich genug, als mittelloser Exilant für eine wachsende Gemeinde aus Künstlern und Intellektuellen den Guru und Propheten. Da hatte er, nicht weniger erstaunlich, als kleiner, dicklicher Mann gleich einen ganzen Harem von anspruchsvollen Geliebten am Hals, darunter vor allem seine Schülerin Friedl Benedikt und die vermögende Malerin Marie-Louise von Motesiczky, alle offiziell geduldet von seiner Haupt- und Ehefrau Veza, die Canetti offenbar nach einer Fehlgeburt alle Freiheiten gab und ihm gegenüber in die Mutterrolle schlüpfte. „Eine klagt, die Andre torkelt, und die Dritte atmet durch Kiemen. Der glückliche Besitzer von drei ganz verschiedenen Frauen“, zitiert der Biograf den geplagten Pascha. Und prophezeit, dass die Tagebücher dereinst genauere Auskunft über Canettis erste Ehe geben werden, ein „Horrorkabinett“ an wechselseitigen Abhängigkeiten. Besonders Vezas Suizidfantasien waren es, die Canetti jahrzehntelang terrorisierten.
Das hinderte ihn freilich nicht, sie nach ihrem Tod 1963 heilig zu sprechen. „Wer wirklich geliebt sein will, der braucht nur zu sterben“, hatte er bereits zehn Jahre zuvor beim Tod der von ihm verstoßenen Friedl Benedikt notiert, nun schien er aus der Trauer gar nicht mehr herausfinden zu wollen – und war doch schon längst mit der fast dreißig Jahre jüngeren Hera Buschor zusammen, einer Schweizer Restauratorin, die 1971 seine zweite Ehefrau wurde. Canetti, der „Oger“, der „Menschenfresser“: Spätestens seit Peter Conradis 2001 erschienener Biografie über Iris Murdoch ist das Bild vom Humanisten und Kosmopoliten Canetti verdrängt worden von dem des „Gott-Monstrums von Hampstead“, das intrigierte und manipulierte, Frauen hörig machte und durch seine manische Eifersucht in den Wahnsinn trieb. Nicht ohne ironischen Unterton stellt daher Hanuschek die Frage: „War Elias Canetti ein ‚guter‘ oder ein ‚böser‘ Mensch?“
Die Vorwürfe zugleich bestätigend wie relativierend, kommt er zu einem wenig befriedigenden, weil ganz Canettis Selbstbild verhafteten Ergebnis: Canetti sei eben ein „proteischer“ Autor gewesen, der alle menschlichen Möglichkeiten in sich hatte und erkunden wollte – damit ließe sich freilich selbst ein Mord rechtfertigen.
Die Widersprüche zwischen Fremd- und Selbstbeschreibung im Fall Canetti bekommt Hanuschek zu wenig in den Blick. Hanuscheks Handicap ist jedoch die vom Dichter selbst vorgelegte dreibändige Lebensgeschichte. Da er das vermeintlich längst Bekannte nicht einfach nacherzählen will, beschränkt er sich für die erste Lebenshälfte Canettis darauf, die Autobiografie mit den Entwürfen und verworfenen Kapiteln aus dem Nachlass zu konfrontieren und zu ergänzen. So wird die „Dokumentarbiographie“ zu einem eindrucksvollen Kommentar und Korrektiv und trägt bedeutende, aber verschwiegene Freundschaften nach wie die mit dem Sozialisten Ernst Fischer: Veza fehlte, wie jeder sehen konnte, der linke Arm, aber Canettis machten daraus ein Tabu, und als Fischer es brach und die Behinderung publik machte, wurde er kurzerhand aus der Autobiografie gestrichen.
Ebenso zeigt Hanuschek, dass der für Canetti typische Mechanismus der nachträglichen Aufwertung bereits beim Tod der übermächtigen Mutter Mathilde 1937 ablief. Canetti-Kenner werden Hanuscheks Biografie daher mit Gewinn lesen; für diejenigen, die diesen Autor erst entdecken wollen, dürfte sie sich dagegen als sperriger Einstieg erweisen, setzt Hanuschek doch merkbar die Kenntnis von Canettis Darstellung voraus. Viele folgenreiche Begebenheiten gehen in der vom Biografen aufgehäuften Faktenmasse unter, darunter das vom Großvater verhängte „Ur-Verbot“, zu töten, nachdem der kleine Elias, die Axt in der Hand und ein entschlossenes „Jetzt werde ich Laurica töten!“ auf den Lippen, auf seine Cousine losging. Oder sie fehlen ganz wie jener im Dienste der emotionalen Abhärtung verordnete Klassenausflug in ein Züricher Schlachthaus, wo der Musterschüler seinem Lehrer ein entsetztes „Mord!“ entgegenschleudert.
So sind die letzten Kapitel, für die keine erdrückende Vorlage Canettis existiert, die gelungensten. Sie erzählen die Geschichte einer späten Sozialisation, einer privaten wie literarischen. Denn Canetti war nicht nur ein Frühvollendeter, er war auch ein Spätzünder. Seiner jungen zweiten Frau gelingt es spielend, den „faunischen Charakter“ in Zürich an die häusliche Leine zu legen, und sie macht den 67-Jährigen zum glücklichen Vater einer Tochter. Parallel dazu entfaltet sich endlich der literarische Ruhm Canettis, der sich jetzt über jeden Literaturpreis freut, als sorgendes Familienoberhaupt nun wie um sein Leben publiziert und bald schon seine Verleger mit immer höheren Honorarforderungen drangsaliert. Werke wie „Die Stimmen von Marrakesch“ (1968) und „Die gerettete Zunge“ (1977) machen ihn zum Bestseller-Autor.
Das Glück des späten Ruhms spiegelt sich auch in den Fotografien wieder, die der von Kristian Wachinger zusammengestellte Bildband zu Leben und Werk enthält. Denn der Band beschert dem Leser nicht nur eine Begegnung mit vielen Gestalten des Canetti-Kosmos wie dem gelähmten Thomas Marek alias Herbert Patek oder dem Kaffeehaus-Weisen Abraham Sonne, der so gesprochen haben soll, wie Musil schrieb: Er zeigt auch auf vielen der späten Porträts einen gelösten, ja herzlich lachenden Canetti – und das, obwohl ihn das Schicksal immer mehr zu dem werden ließ, was er am wenigsten hatte sein wollen, einem „Überlebenden“. Selbst seine zweite Frau musste er 1988 noch zu Grabe tragen. Doch sogar mit seinem größten Feind schloss Canetti am Ende eine Art Waffenstillstand. Die Aussicht auf ein Ehrengrab gleich neben James Joyce mag ein wenig geholfen haben. In der Nacht vom 13. auf den 14. August 1994 starb der zeitlebens gegen den Tod Protestierende friedlich im Schlaf.
Sven Hanuschek: „Elias Canetti. Biographie“. Carl Hanser Verlag, München, Wien 2005. 800 S., 29,90 Euro Kristian Wachinger (Hg.): „Elias Canetti – Bilder aus seinem Leben“. Carl Hanser Verlag, München, Wien 2005. 176 S., 25,90 Euro
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