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Archiv-Artikel

Saufen und saufen lassen

Fehmarn: Ostsee, Sonne, Wind und Wellen. Doch die Insel auf der Vogelfluglinie ist zugleich Europas Nadelöhr des Alkoholtourismus

VON PETER SCHANZ

Ja nun, die Winter sind schon etwas einsam und dunkel und lang. Aber die Sommer bei uns, unsere Sommer sind groß und wunderbar. Gerade jetzt leben wir wieder mitten im Bilderbuch: Strahlend blau steht der Himmel; und auf saftigen Feldern der Raps: hoch und prall und knapp vor der Ernte. Wenige Tage noch hat der Bauer Zeit, Touristenkinder auf Ponys an den Strand zu geleiten. Über der Ostsee eine launige Brise, die die Badenden noch baden lässt und die Surfer schon surfen. Wieder ein glücklicher Tag auf unserer Insel. Fehmarn ist wie unsere Flagge: die goldene Krone im blauen Meer.

Man merkt nicht gleich, dass heute Sonntag ist: Der Aldi-Parkplatz ist wieder so voll. Der Parkplatz von Lidl auch. Genauso die Parkplätze von Plus, von Sky, von Edeka. Aber das ist bei uns so Sitte, sieben Tage die Woche handeln wir. Denn unsere Sommergäste wollen auch heute schöne frische Sachen grillen auf den Campingplätzen und vor ihren Wohnmobilen; oder in ihren Bauernhofapartments eine feine Soße über die Nudeln schütten. Wollen auch büschn was knabbern und was trinken dazu. Manche wollen nur etwas trinken. Und das möglichst lange. Du erkennst sie an den Nummernschildern aus Skandinavien: Dänen, viele Schweden, vereinzelte Finnen. Dazwischen natürlich viel Nordrhein-Westfalen wie immer. Aber die Einkaufswagen an den skandinavischen Autos sind viel professioneller beladen, vor allem mit Pappkartons mit hauptsächlich Schnaps, Wein, Sekt. Und Dosen, palettenweise Dosen, turmhoch Dosen, mit Bieren aller Länder. Wie geht das, dass so viel Stoff in einen Kofferraum passt? Das geht mit Üben! Unter den Sitzen ist auch Platz. Und auf dem Dach. Und im Anhänger. Und in den Gepäckschächten der Busse. Wir sind hier eingekeilt von Alkoholtouristen. Die Straßen sind blockiert. Täglich Stau im Urlaubsparadies. Aber wir hupen nicht. Wir wollen freundlich sein zu unseren Gästen. Sie dürfen ihren Alkohol auch in Kronen bezahlen. Sie haben doch keine Euros.

Wir können ja schlecht das ganze Zeug selber trinken. Obwohl es uns mancher zutraut. Schon auf der Klowand der ersten Festlandkneipe jenseits der Sundbrücke steht geschrieben: „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd. Auf Fehmarn ist es umgekehrt.“ Ich hatte diesen Spruch früher für so eine Wanderwahrheit gehalten, die allüberall mit wechselnden Ortsangaben angewandt wird. Bis ich einen Seelsorger aus dem Ruhrgebiet kennen lernte, der über Jahre hinweg sein einziges Wissen über Fehmarn aus ebendiesem Vers bezogen hatte. Er wohnt jetzt hier, weshalb auch immer.

Wir stellen den ganzen Stoff doch nur hin, damit unsere skandinavischen Brüder und Schwestern Grund haben, uns zu besuchen. Sie kommen ja nicht als plündernde Wikinger, auch wenn sie nichts Flüssiges stehen lassen, sondern als Wohltäter. Weil bei uns der Alkohol nur ein Drittel so teuer ist wie in Schweden, lohnt sich die Reise immer.

Die haben ihren Spaß und wir eine Beschäftigung: wir laden den Sprit und das Øl von den Lkws runter und rein in die Regale, ganztägig, an sieben Tagen, wir sitzen an den Kassen, und wir sehen zu, dass alle auf dem Formular der Exporterklärung das richtige Kreuzchen machen. Denn wer nicht deutsch ist, wer nicht hier wohnt und seine Dosen sofort mit sich ins Ausland verfrachtet, der ist vom Dosenpfand befreit. Das ärgert den Bundesumweltminister. Aber unser holsteinisches Oberverwaltungsgericht in Schleswig hat das so geklärt. Darauf hat der Trittin noch eine Novelle zur Verpackungsverordnung geschickt. Aber unsere neue schwarz-rote Landesregierung sieht das anders: Der Skandinavier müsse vom Pfand befreit bleiben. Da haben wir ziemlich aufgeatmet. Denn wenn den Dänen die Dosen zu teuer geworden wären, dann hätten wir doch sofort wieder Feuer auf dem Deich.

Wir Fehmaraner sind in letzter Zeit noch mehr zusammengerückt, als wir das ohnehin schon immer waren. Seit der Wiedervereinigung sind wir leider nicht mehr die größte deutsche Insel, weil jetzt ja Rügen auch Deutschland ist. Inzwischen hat Rügen angeblich auch mehr Sonnenscheinstunden pro Jahr als wir. Sonst waren wir immer die Sonnigsten, hatten mehr als die Freiburger da unten an ihrem Kaiserstuhl. Aber mittlerweile sind wir wieder Spitze, diesmal in Sachen Verwaltungsreform. Der über Jahrhunderte gewachsene Zank zwischen dem Städtchen Burg und den drei ländlichen Kirchspielen wurde zur Überraschung aller Beteiligten durch eine Art Wunderheilung ausgesetzt. Zwölf Jahre nach der großen deutschen Wiedervereinigung stimmten wir für unsere eigene Fusion und sind jetzt alle eins: ein Volk, eine Stadt, eine Insel.

Seither wollen dauernd irgendwelche Festländler von uns wissen, wie man so etwas macht, dass man zusammengehört und die Verwaltung schlank wird und der Amtsweg kurz. Aber wir können das gar nicht mehr so genau erklären, es ist uns passiert. Bei der ersten gemeinsamen Bürgermeisterwahl hatten CDU und SPD allen Ernstes ein und denselben Kandidaten aufgestellt – wirklich wahr! Aber wir Fehmaraner haben den dann einfach nicht gewählt, sondern einen ganz anderen. Der hieß Otto-Uwe Schmiedt und war wenigstens keiner von uns. Jetzt haben wir ihn, und uns geht es gut.

Fehmarn liegt ja mit dem Arsch zum Baltikum, sagt unser Bürgermeister Schmiedt. Da hat er wohl Recht irgendwie. Aber ich weiß nicht, was genau es bedeuten soll – schrecken wir nun ab, oder laden wir ein? Also alkoholmäßig laden wir auf alle Fälle ein, die ganze skandinavische Verwandtschaft laden wir ein, auch ihre eigenen Läden hinzustellen, damit sie nicht nur auf Aldi & Lidl angewiesen sind. Gleich am Ortseingang von Burg, hinter dem „Pfad der Sinne“, wo ein findiger Bauer den Stadtkindern ein paar einfache Barfußerfahrungen im Rapsfeld verkaufen möchte, sind letzte Woche wieder die Baufahrzeuge angerückt. Fleggaard DanDiscount kommt! Noch ein Shop! Wieder 60 Arbeitsplätze. Sollen insgesamt 100 werden. Im Mai erst hat Nielsen’s ScanShop aufgemacht. Nicht ganz so groß, aber immerhin auch 20 Stellen. Und alle ganzjährig! Calles Grenzshop ist schon seit 2001 dabei und hat sich auf fast 150 Arbeitsplätze gemausert. Unser Prunkstück aber steht in Puttgarden, wo die Vogelfluglinie viel Verkehr übers Wasser führt. 6.744.144 Passagiere wurden 2004 von den Scandlines übergesetzt. Rund um die Uhr legt jede halbe Stunde eine Fähre ab, fährt über den Belt nach Rødby in Dänemark. Und zurück natürlich. Ab und an wird auch Hamlet aufs Schiff gerollt, der EC-Zug zwischen Kopenhagen und Hamburg.

Neben den Fähranlagen schwimmt im Hafen ein kantiges Ungetüm. Das ist der größte aller Schnapsläden unter unserer Sonne, der Scandlines Boardershop. Da haben wir eine größere Wein-Auswahl als die Berliner im KaDeWe.

Ich bin Wirtschaftsliberalist, sagt unser Bürgermeister, und: Das ist ein phänomenale Entwicklung! Schweden habe Kaufkraft ohne Ende! Würde sonst der schwedische Investor Millionen investieren wollen? Nein, der schwedische Staat wird seine Gesundheitspolitik in den nächsten Jahren nicht ändern, sagt unser Bürgermeister. Hmm. Was aber ist Gesundheit? Ist in Schweden gesund, was bei uns krank ist? Was heißt Alkoholismus? Das hat damit nichts zu tun – der Verbraucher ist mündig, sagt unser Bürgermeister. Und wieso soll er ein Problem damit haben. Was heißt Alkoholtourismus? Unser Bürgermeister spricht lieber vom Grenzhandel und rechnet die wachsenden Verkaufsflächen zusammen: 9.270 Quadratmeter sind schon unter Dach. Weitere beantragt. In der Krankheitspolitik finde sich einer zurecht.

Da tröstet der Pressesprecher unserer obersten Kreispolizei, Horst Ehrhardt: Schlimmer als im restlichen Kreis Ostholstein sei das mit den Trunkenheitsfahrten auf Fehmarn auch nicht. Klar: Ohne Alkohol hätte auch die Polizei deutlich weniger zu tun. Plötzlich redet er sich in einen herzensguten Furor hinein, wettert gegen eine wirtschaftshörige Politik, die die Umwelt platt macht, versiegelt, in Grund und Boden niederbetoniert. Er fordert nachdrücklich die Wiedereinführung moralischer Kategorien für das öffentliche Handeln. Der extrem doppelzüngige Umgang mit Drogen sei pervers: Profit durch Krankheit. Heiligt der Zweck Arbeitsplatz jedes Suchtmittel? Hier könne doch keiner mehr guten Gewissens wegschauen. Er aber gehe nun nach vierzig Jahren Polizistsein in den Ruhestand. Nächste Woche. Was unser Kreis-Polizeisprecher so alles sagt … Hat der noch nie mit unserem Bürgermeister geredet?

Aus ganz normalen Familien kommen ganz normale Suchtkranke. Steht auf dem Poster, das Julia Braun in ihrem Büro hängen hat. Sie ist die Teamverantwortliche der ATS-Suchthilfe, die den nördlichen Kreis Ostholstein betreut. Ihre Dienststelle hat die Räume direkt über dem Parkplatz von ScanShop Nielsen’s Discount. Zwei Drittel unserer Drogenabhängigen sind Alkoholiker. Nein, es sind nicht signifikant mehr als auf dem Festland. Aber die Krankheitsbilder sind schlimmer. Wir Insulaner scheinen geborgen, nein: gefangen zu sein in einem besonderen Gemisch aus Schicksalsergebenheit und Erdverbundenheit. Weil jenseits der Brücke das Leben noch feindlicher ist, gehen wir nicht so leicht hinüber. Aber hier zu bleiben kann auch Nachteile haben, weil es Anonymität auf der Insel nicht gibt. Deshalb ist es nötig, dass die Therapeutin woanders wohnt, nur dann werden wir auch – vielleicht – etwas gestehen von unserer Sucht. Braun und ihre KollegInnen bieten viele Vorbeugungsprogramme an, gehen dorthin, wo Jugendliche sind. Müssen dort hören: Wochenende ist bei uns Komasaufen angesagt. Pluspunkte gibt’s in der Gruppe nur, wenn du säufst wie ein Tier. Und dann stehen unsere engagierten Sisyphusse von der Suchtberatung wieder dumm da; am Ende mit ihrem Latein: Alkohol macht krank. Alkohol macht impotent! Ach ehrlich? Auf dem Heimweg gehen die Jungen dann wieder an den fröhlichen Erwachsenen vorbei: vorbei an hunderten, tausenden von Flaschen Dosen Kisten voll Wein Schnaps Bier, die von wohl situierten Erwachsenen in schöne, große Automobile geladen werden. Gut gelaunte, herrlich legale Drogendealerei.

Unser Fehmarnsches Tageblatt hat dieser Tage eine Umfrage zum Thema gemacht: Wir leben doch alle davon, hieß die Überschrift. Die meisten der befragten Fehmaraner sehen das mit dem Alkoholtourismus so wie unser Bürgermeister. Die einkaufenden Skandinavier sowieso. Ein paar deutsche Touristen klagen schon mal über abschreckend lange Warteschlangen und überall haufenweise leere Kartons. Aber Sorgen um unser gutes Image als Fremdenverkehrsparadies müssen wir uns nicht machen. Steht in unserem Tageblatt; und wir lesen es beruhigt.

Der Alkoholtourismus ist inzwischen eine eigene Touristenattraktion geworden. Besonders beliebt als Fotomotive sind Konsumenten, die nicht mit dem Auto auf der Fähre waren, sondern zu Fuß kommen und folglich besonders pittoreske Transportgeräte nutzen: Manche haben Omas Rollwägelchen ausgeliehen. Mitreisende Rollstuhlfahrer werden zugepackt mit Dosenpaletten. Kleinkinder müssen auf der Stelle laufen lernen, weil Vati die Karre braucht für den Øltransport.

Na denn Prost! Tun wir Gutes und saufen mit! Üben hilft: Wir saufen mit Günther Jauch Krombacher für den Regenwald. Wir saufen mit Oliver Bierhoff Bitburger für Bolzplätze. Die Schweden saufen dänisches Tuborg und deutsches Beck’s für unsere Arbeitsplätze, und wir saufen uns mit Hansa Pils und Oettinger um unser letztes bisschen Verstand. Hauptsache, wir sind von der Straße; ab in den Graben, und dort: saufen für Wohlstand und Weltfrieden.

Aber was sollen wir denn machen? Gegen Arbeitsplätze sein? Öfter auf Entzug gehen? Wenn aus den Gewerbesteuereinnahmen mein Therapieplatz bezahlt werden muss? Sollen wir unsere schwedischen Freunde enttäuschen? Hüter unserer dänischen Brüder sein? Sind ja selbst fast Skandinavier. Mit langen, dunklen Wintern voller Einsamkeit und heißen alkoholischen Getränken. Mit schnellen großen Sommern voller Licht und Farben, die einen ganz kirre machen. Sollen wir uns schämen, weil wir Geschäfte machen mit der Gesundheit der anderen? Sollen wir uns schämen, weil wir das nicht alles selber trinken? Das ist alles so komplissiert. Dabei isses sonst einfach nur schøn bei uns. Da lass uns noch ein drauf nehm, Alohltuismus hin oder her.

PETER SCHANZ, geboren 1957, lebt als freier Autor und Dramaturg in Gollendorf auf Fehmarn