Der lange Marsch zum Coming-out

Maris Sants (38) unterdrückte und bekämpfte jahrelang seine Homosexualität. Jetzt ist der Psychotherapeut Gemeindevorsteher einer evangelischen Freikirche in Riga – und gibt schwulen Paaren seinen Segen

Als Maris Sants in der Ecke einer Kneipe in der Rigaer Altstadt Platz nimmt, nicken ihm einige Besucher wohlwollend zu. Andere beginnen zu tuscheln. In der lettischen Hauptstadt kennt man Sants. Erst kürzlich schaffte er es wieder auf die Titelseiten. Da hatte Sants zum dritten Mal einem homosexuellen Paar den kirchlichen Segen gegeben.

Der 38-Jährige, mit kurzem dunklem Haar und Ohrring, trägt eine schwere Goldkette mit einem Kreuz. „Dass ich schwul bin, habe ich mit 12 Jahren gemerkt“, erzählt er. Seine Mutter sagte damals: „Homosexuelle, das sind kranke, verrückte Menschen und sie werden von Gott bestraft.“ Maris will nicht bestraft werden – weder von Gott noch vom sowjetischen Staat, der Homosexuelle ins Gefängnis steckt. So verlässt er mit 17 seine Geburtsstadt Aizpute rund 200 Kilometer westlich von Riga und geht in die Hauptstadt. Dort sucht er einen Arzt auf. Der verordnet Antidepressiva und Bilder nackter Frauen.

Nach der Schule beginnt Sants in Riga Mathematik zu studieren. Ein Jahr später hat er das erste Mal Sex mit einem Mann und den Kampf gegen sich und seine Homosexualität noch nicht aufgegeben. Auf Anraten eines Freundes fährt er ins russische Nischni Nowgorod. Für seine Mitarbeit beim Umbau eines Krankenhauses bietet ihm ein Psychologe eine kostenlose Therapie an. Nach einem Monat bricht Sants die Therapie ab. „Ich lag nachts stundenlang wach, zitterte und hatte das Gefühl, nicht mehr in meinen Körper zurückkehren zu können. Da kam mir der Gedanke: Keiner hilft dir außer Gott.“ Zurück in Riga lässt sich der Katholik Sants 1987 mit 21 Jahren evangelisch taufen.

Im gleichen Jahr heiratet er. Anfangs scheint die Selbstverleugnung zu klappen. 1989 wird ein Sohn, 3 Jahre später eine Tochter geboren. Zu diesem Zeitpunkt studiert Sants bereits Theologie und arbeitet als Krankenhausseelsorger. 1994 erfolgt seine Ordination zum Pastor. „Die ganze Zeit versuchte ich, nicht homosexuell zu leben“, sagt Sants.

Zwei Jahre später kommt der Wendepunkt. Die dritte Tochter, drei Monate alt, stirbt – der Moment für Sants familiäres Coming-out. 2000 gründet er eine „Untergrundkirche“, wo er einmal im Monat Homosexuelle zu einem Gottesdienst einlädt. Im Rahmen einer geschlossenen Veranstaltung der medizinischen Fakultät hält er Vorträge über Homosexualität in Lettland. Dort filmt jemand heimlich und übergibt das Material der evangelischen Kirche.

Die schließt Sants am 21. Mai 2002 aus. „Das Schmerzhafteste damals war“, sagt Sants, „dass sich viele langjährige Freunde von mir abwandten.“ Doch er macht auch positive Erfahrungen. Seine Familie hält zu ihm, genauso wie ein Pastor, der einen offenen Unterstützerbrief schreibt.

Heute steht Sants einer Gemeinde der offenen evangelischen Kirche vor, die in Lettland offiziell registriert ist, und lehrt Psychotherapie an der Rigaer Universität. Vor kurzem hat er einen Prozess gewonnen – gegen eine Schule, die an seiner Stelle einen weniger qualifizierten Lehrer für das Fach Religionsgeschichte eingestellt hat. „Sie wollten mich nicht, weil ich schwul bin“, sagt Sants.

Das Verfahren geht in die nächste Instanz. „Egal, wie es ausgeht“, sagt Sants, „gesiegt habe ich schon jetzt.“ In drei Wochen wird er das vierte homosexuelle Paar trauen und damit wieder Zeugnis ablegen, wie er sagt. „Zeugnis, dass Gott auch diese Beziehung liebt.“BARBARA OERTEL