„Die große Koalition ist ein Horrorszenario für das Land“
Der Politologe Joachim Raschke hält einen Wahlsieg von Angela Merkel noch immer für sicher – und eine Koalition mit der FDP für wünschenswert
taz: Herr Raschke, kaum hat der Bundespräsident seine Entscheidung für Neuwahlen bekannt gegeben, sinken Union und FDP in den Umfragen. Ist der Wahlausgang wieder offen?
Joachim Raschke: Es bleibt dabei, dass die Wahl an zwei wesentlichen Punkten entschieden ist. Rot-Grün wird abgewählt, und Angela Merkel wird Kanzlerin.
Was folgt daraus für den Wahlkampf?
Dass ihm der Ernstcharakter fehlt, zumindest auf der linken Seite des politischen Spektrums. Gerhard Schröder und Joschka Fischer tun so, als spielten sie auf Sieg. Das ist ein abenteuerlicher Vorgang, der die Intelligenz des Publikums beleidigt.
Sollten die beiden lieber sagen, sie spielen auf Platz?
Sie haben ohne Machtperspektive keine Chance, ihre Wähler zu mobilisieren. Wenn die Niederlage der rot-grünen Regierung feststeht, muss niemand mehr zur Wahl gehen. Deshalb werden die beiden Parteien auf ihre Kernwählerschaft zurückgeworfen, und die Linkspartei profitiert vom freigesetzten Protest. Im Grunde geht es nur noch um einen Stimmungstest, unbelastet von der Regierungsfrage – wie bei einer Europawahl.
Es gibt durchaus eine Machtperspektive für die SPD: die große Koalition.
In der Präferenz der Wähler ist das die beliebteste Koalitionsvariante. Da gibt es eine unpolitische Sehnsucht nach Harmonie, eine Art bundesrepublikanischen Wilhelminismus nach dem Motto: Ich kenne keine Parteien mehr. Aber das wäre ein Horrorszenario für das Land und für die SPD eine mittlere Katastrophe.
Warum?
Die SPD ist weder personell noch programmatisch darauf vorbereitet. Sie ist auf dem Weg nach links, nicht zu einem neuen Mitte-Kurs. Angesichts ihrer desolaten Verfassung würde sie in einem solchen Spagat zerrissen.
Und warum wäre es ein Horrorszenario für das Land?
Weil ein klarer Leistungsvergleich zwischen den politischen Lagern verhindert würde. Selbst eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung mit Mehrheit im Bundesrat wäre besser. Dann brächten Neuwahlen ein Jahr später klare Alternativen und einen Entscheidungsdruck für die heutigen Protestwähler.
Ihr Göttinger Kollege Franz Walter hält die große Koalition, wie sie von 1966 bis 1969 auf Bundesebene bestand, durchaus für ein Erfolgsmodell.
Damals stimmten Union und SPD in wichtigen Punkten überein. Heute würde die SPD innerhalb der Regierung eine Blockadepolitik betreiben wie bislang die Union im Bundesrat. Das wäre ein reines Streitbündnis, das eine Krise des politischen Systems heraufbeschwören würde. Für die Wähler ist es sinnvoller zu sehen, was eine schwarz-gelbe Koalition auf dem zentralen Feld von Wirtschaft und Arbeit zu leisten vermag – nachdem Rot-Grün mit der Ausschreibung von Neuwahlen das eigene Versagen eingestanden hat.
Wenn Schwarz-Gelb den gleichen Reformverdruss produziert wie Rot-Grün, dann wäre auch eine Systemkrise da.
Da arbeiten Sie schon im Voraus mit der Unterstellung, dass eine neue Regierung ebenfalls versagt. Ich halte es immerhin für möglich, dass Schwarz-Gelb ökonomische Erfolge im Sinne von mehr Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit erreichen kann.
War es ein Fehler, die Erhöhung der Mehrwertsteuer in den Mittelpunkt zu stellen?
Keineswegs. Damit hat es die Union immerhin geschafft, wenigstens eine kleine Zuspitzung in diesen merkwürdigen Wahlkampf hineinzubringen. Sie verdeutlicht an diesem Thema ihre Entschlossenheit, eine längerfristige Reformperspektive zu verfolgen und kurzfristige Nachteile in Kauf zu nehmen. Diese Auseinandersetzung hat Mobilisierungspotenzial für die Union.
Die Umfragezahlen sprechen im Moment dagegen.
Die Union wird sich in der heißen Wahlkampfphase wieder stabilisieren. Weil die Machtalternative fehlt, liegt die Latte für einen Erfolg der CDU/CSU so niedrig wie seit 1957 nicht mehr. Damals erreichte die SPD 31,8 Prozent. Seitdem ist es der Union nicht mehr so leicht gemacht worden.
Müssen wir jetzt alle die Union wählen – oder gar die FDP?
Ich selbst bleibe Grünen-Wähler. Aber ich will nun endlich mal wissen, ob die Union im Bund mehr als Blockade kann.
INTERVIEW: RALPH BOLLMANN