Schwarzfahren und Sparschwein füttern

Seit 30 Jahren wird beinahe gegen jede Preiserhöhung der BVG protestiert: mit Demonstrationen, gefälschten Tickets und Anschlägen. Dennoch steigt der Ticketpreis unaufhaltsam – am Montag ist es wieder so weit. Eine Geschichte des Widerstands

von Robert Kneschke

Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gehören zu den beliebtesten Hassobjekten dieser Stadt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie in schöner Regelmäßigkeit ihre Fahrpreise – teilweise drastisch – erhöhen oder für das gleiche Geld ihr Angebot reduzieren. Immer wieder regt sich dagegen Widerstand, von verschiedensten Gruppen und Organisationen, in unterschiedlichster Form. Richtig erfolgreich – dass also Fahrpreiserhöhungen zurückgenommen wurden – waren die Proteste eigentlich nie. Etwas bewegt, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung des Unternehmens, haben sie dennoch.

Seit der Wiederaufnahme des öffentlichen Personennahverkehrs im Mai 1945 ist der Preis für einen Einzelfahrschein von 20 Pfennig in 23 Preiserhöhungen auf 2 Euro – also etwa 3,91 Mark – im Jahr 2004 gestiegen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die Erhöhungen in Fünf-Pfennig-Schritten erfolgten, gab es keinen nennenswerten öffentlichen Widerstand gegen teuere Tickets.

Der erste große Protest regte sich, als im März 1972 der Preis für einen Einzelfahrschein von 30 Pfennig auf 50 Pfennig steigen sollte. Bereits Ende 1971 begann eine Kampagne gegen die Fahrpreiserhöhungen. Die Band „Ton Steine Scherben“ schrieb ihren „BVG-Song“ – heute als „Mensch Meier“ bekannt –, presste ihn als Foliensingle und verteilte sie während Demonstrationen, an denen oft mehrere tausend Menschen teilnahmen. Die Verpackung der Single wurde als Flugblatt benutzt: „Die BVG-Preise wurden erhöht. Warum? Weil der Senat unser Geld nicht für uns ausgibt, sondern für Sachen, die uns nicht nutzen. … Wir sollen zahlen, zahlen, zahlen, bis wir schwarz werden. Da fahren wir lieber gleich schwarz.“

Außerdem kam es zu zahlreichen Aufsehen erregenden Einzelaktionen: In U-Bahnhöfen wurden die Notsignalschalter betätigt oder die Notbremsen gezogen. In Spandau weigerten sich etwa 60 Schüler der Martin-Buber-Gesamtschule, ihre Monatskarten im Bus zu zeigen. Als in der Woche der Busfahrer wiederholt angegriffen wurde, weigerte sich die BVG, die Haltestelle vor der Schule anzufahren.

Auch in der Steglitzer Schlossstraße weigerten sich etwa 100 Schüler, ihre Monatsmarken zu zeigen. Andere besetzten Busse, U-Bahnhöfe und Kreuzungen. Der Arbeitskreis Nahverkehr des DGB unterstützte die Demonstrationen, die IG Metall verurteilte die Preiserhöhungen, protestierte aber nicht. Eine ganz neue Dimension bekam die Kampagne am 13. März 1972: Unbekannte verübten einen Sprengstoffanschlag im BVG-Hauptgebäude in Schöneberg und verletzten zwei Mitarbeiter.

Im Februar 1975 entführten Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ den CDU-Politiker und Kandidaten für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, Peter Lorenz. In seiner Tasche fanden sie Planungen zu neuen Fahrpreiserhöhungen der BVG. Nach der Veröffentlichung dieser Information wurde die Preisänderung um ein halbes Jahr auf den 1. März 1976 verschoben.

Erneut bildete sich eine Gegenkampagne, an der sich Gruppen von der KPD über „Spontis“ bis hin zu den „Feierabendterroristen“ der Revolutionären Zellen beteiligten. Im November 1975 verteilten Letztere nach eigenen Angaben rund 120.000 Sammelfahrkarten im Wert von 360.000 Mark. Als die BVG vor den gefälschten Tickets warnte, wurden auch diese Warnungen gefälscht und mit Spartipps versehen: „Nutze Monatsmarken gemeinsam, halte Kontrolleure auf oder gründe Schwarzfahrversicherungen.“

Eine Frauengruppe zerstörte systematisch Fahrscheinautomaten. Ende Februar 1976 veranstaltete der Landesschülerausschuss (LSA) eine Demonstration vor dem BVG-Hauptgebäude mit 2.500 Menschen, unterstützt unter anderem von den Jusos, der GEW-Studentengruppe und Politikstudierenden der Freien Universität Berlin. Vereinzelt flogen Steine, Farbeier und Molotow-Cocktails in Richtung des BVG-Hauptsitzes. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein und musste in den folgenden Tagen Haltestellen bewachen. Trotzdem wurde ein Bus mit Stahlkugeln beschossen.

Schon im folgenden Jahr stand die nächste Teuerung an: Ab August 1977 sollte der Fahrschein 1,30 Mark kosten. Im Vorfeld reflektierten „Berliner Fahrpreisgruppen“ den Erfolg der vergangenen Proteste: „Die letzten Fahrpreiserhöhungen in Westberlin haben gezeigt, dass kurzfristig angelegte Kampagnen nicht zum Erfolg führen. Sie zeichneten sich vor allen Dingen durch militärische Einzelaktionen (Automaten entwerten, Kartennachdruck, Brandsätze) aus. Diese führten zu einer Isolation in der Bevölkerung.“

Deshalb wurde eine Idee aus den 60er-Jahren wieder aufgegriffen: der Rote Punkt. Ein solcher Punkt am Auto signalisierte: Ich nehme Anhalter mit. In Hannover wurden so 1968 Fahrpreiserhöhungen rückgängig gemacht. Aber es kam auch wieder zu einem Brandanschlag: Im Juni 1977 nahmen die Revolutionären Zellen die Schwarzfahrerkartei der BVG ins Visier. Die drei Räume, in denen die Karteikarten lagerten, brannten komplett aus.

Während in den 70er-Jahren vor allem junge Kommunisten, Anarchisten und so genannte Spontis den Protest artikulierten, beteiligten sich in den 80er-Jahren verstärkt Umweltgruppen wie der BUND, Gewerkschaften und Parteien wie die Alternative Liste oder Grauen Panther am Protest. Die Initiative „Rettet die BVG“, die 1987 unter anderem billigere Umweltkarten und die Wiederinbetriebnahme aller S-Bahn-Strecken forderte, wurde von über 30 Organisationen unterstützt. Trotz breiterer Basis mussten die Protestierenden viele Niederlagen einstecken: Ungeachtet aller fantasievollen Aktionen stiegen die Fahrpreise fast jährlich an. Zwischen 1972 und 1983 hatte sich der Ticketpreis auf 2 Mark vervierfacht.

Anschließend verlor die Protestbewegung gegen die Preispolitik der BVG an Bedeutung: Bis in die 90er-Jahre beherrschten andere Themen wie die Wiedervereinigung und die Olympiabewerbung, die Stadt. Erst Ende der 90er-Jahre standen die Verkehrsbetriebe wieder deutlicher am Pranger. Der Schwerpunkt der Proteste richtete sich aber nicht mehr so stark gegen Preiserhöhungen, sondern gegen die wiederholten Versuche, Sozial- und Arbeitslosentickets abzuschaffen. Im Juli 1996 stellte die BVG deren Verkauf ein. Nach zwei Monaten erheblicher Proteste musste die BVG den Schritt zurücknehmen, schränkte aber den Gültigkeitsbereich der Tickets ein.

Demonstrationen allein hatten sich in der Zwischenzeit als weitgehend wirkungslos herausgestellt. Die Gruppen riefen deswegen zum „zivilen Ungehorsam“ und Schwarzfahren auf. Die Gruppe „Berlin Umsonst“ verteilte Flugblätter mit Tipps zum Schwarzfahren. Wer erwischt wurde, bekam das Geld von Peter Grottian, FU-Professor und einer der zentralen Figuren des Protests, erstattet. Die BVG sah sich gezwungen, auf der ersten Seite ihrer Kundenzeitschrift auf die Proteste einzugehen und vor der Teilnahme zu warnen.

Im April 2004 bekam die Protestwelle einen weiteren Schub. Im Vorfeld des 1. Mai schlossen sich 19 linke Gruppen, darunter [’solid]36, die Antifaschistische Linke und die Anti-Nato-Gruppe, zusammen, um die 1.-Mai-Demonstration durch themenverwandte Aktionen im Vorfeld zu politisieren. Nach der Abschaffung des Senioren- und Arbeitslosentickets und der Preiserhöhung am 1. April rückte dabei auch die BVG in den Blickpunkt. Das Büro des BVG-Vorstandschefs wurde kurzzeitig besetzt. Vor der BVG-Zentrale wurden Schwarzfahrer, die ihr Ordnungsgeld zahlen mussten, mit Sekt, Tulpen und Schnitten begrüßt. Eine Gruppe schaltete kurze Werbespots in Berliner Kinos, in denen der BVG ein Ultimatum gestellt wurde: Bis zum 1. Mai 2004 sollte ein „Sozialticket zum Nulltarif“ eingeführt werden, sonst gebe es Ärger.

Die Protestierenden nutzten verstärkt das Internet. Unter www.nulltarif.tk gibt es seit 2004 Aktionstermine, Flugblätter, Zeitungsartikel, Fotos, Karikaturen und Songs zum Schwarzfahren oder dem Nulltarif. 2005 wurde das Sozialticket – wenn auch überteuert – wieder eingeführt. Ein seltener Achtungserfolg in der Geschichte der BVG-Proteste.

Inzwischen erfährt auch die Idee des „Roten Punkts“ eine Wiederbelebung. Mit einem „Pinken Punkt“ an der Kleidung signalisiert man, dass man schwarzfährt oder sich mit Ticketlosen solidarisch erklärt. Eine ähnliche Idee stammt von der Kampagne „Recht auf Mobilität“, die Buttons mit der Aufschrift „Ich nehm’ Dich mit!“ verteilt. Wer den trägt, zeigt, dass er bereit ist, auf seiner Umweltkarte eine Person mitzunehmen.

Wie erfolgreich waren die Proteste? In den vergangenen 33 Jahren wurde eine Vielzahl von Aktionsformen genutzt, ebenso umfassend war die Bandbreite der beteiligten Gruppen. Doch jedes Mal wurde die geplante Erhöhung der Ticketpreise durchgeführt. Die Misserfolge haben mehrere Gründe. Für erfolgreiche Proteste werden Zeit, Arbeitskraft und Geld benötigt, Letzteres fehlte den Protestierenden, die überdurchschnittlich aus sozial schwachen Verhältnissen stammten. Weil zudem viele von ihnen Studierende sind, steigt und sinkt die Organisationskraft parallel zum Semesterrhythmus der Universitäten. Auch hat sich im Vergleich zu den 80er-Jahren die Deutung der BVG-Politik von einer umweltpolitischen hin zu einer sozialen Frage gewandelt. Der Protest dagegen wurde damit für die – in der Regel besser organisierten und finanzstärkeren – Umweltgruppen weniger attraktiv.

Wichtiger ist jedoch ein anderer Punkt: Die Protestierenden finden als Adressat eine Mischung aus teilprivatisiertem Unternehmen und staatlichen Stellen vor, die nur schwer zu erschüttern ist. Die BVG ist seit 1994 eine Anstalt öffentlichen Rechts, kann also – in Abstimmung mit dem Senat – weitgehend unabhängig agieren. Richtet sich der Protest wegen zu hoher Preise gegen die BVG, wird das seit Jahren mit der Kürzung staatlicher Zuschüsse verteidigt. Richtet sich der Protest aber gegen den Senat, reden dessen Mitglieder in aller Regel ihren Einfluss klein. Das Abweisen von Verantwortung für eine beidseitig beschlossene Maßnahme auf den jeweils anderen erschwert es den Protestierenden, ihre Ziele durchzusetzen.

Durch den politischen Konsens im Abgeordnetenhaus, dass weitere Einsparungen zur Konsolidierung des hoch verschuldeten Haushalts nötig seien, gibt es wenig politische Konflikte zwischen den Fraktionen. Die Oppositionsparteien wissen, dass sie die Kürzungsmaßnahmen im Falle einer Regierungsübernahme beibehalten würden und scheiden deswegen als Unterstützer der Proteste aus. Eine Änderung der Situation ist nicht in Sicht. Eigeninitiative bleibt also weiterhin gefragt.