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Die Stimme der Nichtwähler

Auf der Webseite www.ich-gehe-nicht-hin.de kommen jene zu Wort, die sich nicht an der Bundestagswahl beteiligen wollen. Die taz dokumentiert Beiträge von Wahlverweigerern. Sie sind meinungsstark – und keinesfalls politikverdrossenVON DIETER GRÖNLING

„Ich wähle nicht, damit ich später behaupten kann, ich hab’ DAS nicht gewählt …“ Ein bisschen reizen sie schon zum Streit, die Provokationen auf der Startseite. Und Leo N. kommentiert das prompt überhaupt nicht nett: „Bla, bla, bla. Triefende Selbstgerechtigkeit.“

Nur einen Tag, nachdem der Termin für die vorgezogene Wahl zum deutschen Bundestag offiziell feststand, ging die Website ich-gehe-nicht-hin.de online – mit aus dem Stand heraus erstaunlich hohen Zugriffszahlen und Statements der Nutzer. Kein Wunder: Dies ist genau der Ort, an dem überzeugte Nichtwähler der Welt sagen können, warum sie die Bundestagswahl 2005 ignorieren wollen.

Mit diesem Projekt will die von pol-di.net betriebene Website jedoch niemanden dazu ermutigen, nicht zur Wahl zu gehen. Dahinter steckt auch keine Partei oder eine andere Organisation, politik-digital.de ist ein unabhängiges Netzwerk, die Site entstand in Zusammenarbeit mit der britischen mySociety.org, die zur Unterhauswahl Ähnliches im Netz hatte. „Mit dem Projekt geben wir den fast 13 Millionen Wahlberechtigten, die im Jahr 2002 nicht zur Wahl gegangen sind, ein Forum. Wir hoffen, es wird nicht nur genutzt, sondern auch von allen politisch Verantwortlichen gelesen!“, erklärte Geschäftsführer Christoph Dowe.

Dennoch wollen die Macher nicht versuchen, Besucher davon zu überzeugen, dass Wählen eine gute Sache ist. „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten!“ – das hat schon Kurt Tucholsky gesagt, und auch das ist eine der Provokationen auf der Seite, die offenbar die Diskussion in Gang bringen soll. Besucher herauszufordern, ist inzwischen schon fast nicht mehr nötig, der Wahlverdruss scheint noch größer zu sein, als angenommen. Langsam entsteht eine lebendige und kontroverse Diskussion, an der sich nicht nur die Gehartzten und andere von den gravierenden Folgen der Fehler und Versäumnisse dieser Regierung Betroffene beteiligen. Ob die „anderen“ es besser machen können, wird heftig bezweifelt. Es ist wie mit der Wahl zwischen Rindersteak und Schweinebraten – für einen Vegetarier.

Aber deshalb überhaupt nicht wählen gehen, das nutzt nur den Rechtsextremen – meinen die einen. Andere sind der Auffassung, dass es nur dem Wahlsieger hilft, und versuchen, das mit allerlei Rechenakrobatik zu belegen. Und wer nicht wählen gehen will, weil die Parteien nicht in der Lage sind, Ziele und Programme anständig zu vermitteln und deshalb im Wald steht, wird auf wahl-o-mat.de verwiesen. Die praktische Einrichtung der Bundeszentrale für politische Bildung wurde zum Beispiel zur NRW-Wahl 313.000-mal für die Entscheidungsfindung genutzt – und wird derzeit für die anstehende Wahl vorbereitet.

Die Macher der Wahlverweigerer-Site können dennoch nicht versprechen, dass irgendwer zuhört, nur weil jemand gute Gründe für das Wählen oder Nichtwählen aufschreibt. Versprochen wird lediglich, dass Besucher erklären können, warum sie nicht zur Wahl gehen. Sie müssen dabei nur tolerieren, dass andere Nutzer ihre Begründungen kommentieren. Um Missbrauch und Pöbeleien zu vermeiden, muss man sich jedoch mit der E-Mail-Adresse anmelden. Dann kann nach Herzenslust diskutiert und kommentiert werden.

Ich wähle nicht, weil ich keine Abgeordneten wählen darf, die mich vertreten, sondern nur Parteien, die diesen Staat durch Machtgier, Inkompetenz und Ignoranz zugrunde richten. In den Parteien finden nur noch drittklassige Bürokraten einen Platz, die bei ihrer „politischen Parteikarriere“ möglichst nicht vom Volk gestört werden wollen. Ich möchte gerne erstklassige Abgeordnete direkt wählen dürfen, die wirklich das Volk vertreten und nicht die Machtinteressen ihrer Parteien. Durch ihre grenzenlose Machtgier und Verachtung des Volkes zerstören die Parteien die Demokratie. Von mir bekommen sie dafür keine Legitimation.

Ich wähle nicht, weil ich nie einen Staat legitimieren werde, egal welchen. Es wäre Zeit, endlich eine echte Bürgerselbstverwaltung einzuführen, anstatt hierarchischer Machtsysteme, die sich alle gleichen. Demokratur – mit mir nicht.

Wer nicht wählen geht, unterstützt rechtsextreme Parteien. Da rechtsextreme Parteien ihre Wählerschaft immer sehr gut mobilisieren, ist jede Stimme, die nicht abgegeben wird, im Endeffekt eine für die rechten Parteien. Umso mehr Leute wählen gehen, umso kleiner wird dementsprechend der Anteil gemessen an den abgegebenen Stimmen. Drum geht doch mal lieber wählen, liebe Leute – oder würdet ihr sowieso rechtsextrem wählen?

Ich wähle doch, weil ich nicht zu den Versagern gehören möchte, die mit Sprüchen aus der untersten Gossenschublade über Politiker („Die machen doch eh, was sie wollen“, „Die sind doch alle korrupt und lügen nur rum“) ihre eigene Profilneurose verstecken wollen.

Ich wähle nicht, weil Schröder ein Populist ist (siehe Wahl 2002), der es nicht geschafft hat; Merkel kein vernünftiger Mensch, sondern reiner Politiker ist; die Linkspartei illusorische SED-Ideologie betreibt, die unser Land nicht bezahlen kann; die Grünen weltfremde Ideologen sind, die unnütze Dinge wie Homo-Ehe und Atomkraftausstieg befürworten (keine Industrie, bitte …) und die FDP auch nur noch Politikhickhack kann und kaum fähige Leute hat. Das Einzige, was uns weiterhelfen könnte, sind Politiker der Vernunft wie Juncker in Luxemburg, und dann eine große Koalition, in der ebenso vernünftig verhandelt wird, ohne immer selbst Recht haben zu wollen. Leider sehe ich kaum Chancen dazu derzeit …

In einer Gesellschaft, in der eine bloße Namensänderung (PDS zu Linkspartei) einer Partei Stimmen bringt, sind die Wähler offenbar nicht in der Lage, eine fundierte Wahl zu treffen. Ich gehe nicht zur Wahl, weil ich als Ausländer nicht wahlberechtigt bin. Dürfte ich wählen, würde ich versuchen, die SED-PDS-Linkspartei zu verhindern und eine demokratische Partei wählen.

Die Initiatoren von www.ich-gehe-nicht-hin.de machen sich meines Erachtens strafbar, da sie hier „de facto“ Menschen die Gelegenheit zum Aufruf zum Nichtwählen geben. Das ist undemokratisch und strafbar. Deswegen muss man gegen die Verantwortlichen mit einem Strafantrag vorgehen!

Ich wähle nicht, weil die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass meine Stimme etwas ändert, geringer ist als die Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns.

Ich wähle nicht, weil zwar alle Politiker beim Amtseid schwören, dem Volk zu dienen, aber alle dann nur das tun, was ihrem Machterhalt bzw. ihrer Wiederwahl zuträglich ist.

Ich wähle nicht, weil ich jeden Monat 7.500 Euro auf mein Konto überwiesen bekomme und mir alles so was von egal ist :-) Das Wahlresultat werde ich in meinem Düsseldorfer Loft verfolgen und erhoffe mir beste Unterhaltung! Prost! PS: Viel Spaß beim „Von Angie regiert“-Werden (wie peinlich)!

Ich wähle nicht, weil ich nicht mit meiner Stimme für die finanzielle Absicherung einer gewissen Klasse von Abzockern sorgen möchte. Erst wenn diese Leute gelernt haben, dass „Allgemeinwohl“ wichtiger ist als „mein Wohl“, könnte ich wieder an die Wahlurne gehen. Ansonsten scheint es mir sowieso keine wählbare Alternative zu geben, und schlimmer als unter Schröder und Kohl (Merkel) kann es nicht mehr werden. Die Leidtragenden sind ja doch nur wir „Kleinen“. So oder so.

Wenn ich drei Haufen Scheiße sehe, warum sollte ich dann einen davon essen? Wählen gehen ändert gar nichts, die Wahl dient nur der Legitimierung eines kaputten Systems, sie erweckt den Anschein, die Demokratie würde noch funktionieren und Bürger XY hätte irgendeine Art Einfluss.

Nichtwählen ist für mich lediglich ein Akt geistiger Faulheit. Es gibt keinen Grund, kein Kreuz zu machen, erst recht nicht den Grund der Unzufriedenheit. Wer wirklich unzufrieden ist, mit System, Politikern und Demokratie, und sich was anderes wünscht, der macht sich die Mühe, seinem Anliegen Ausdruck zu verleihen. Und zwar indem er den Wahlzettel durchstreicht oder eine Partei wählt, die eine Systemalternative bietet – auch wenn Letzteres meiner Meinung nach grauenhaft ist. Wer allerdings sagt: Ich bin unzufrieden, darum mache ich mal gar nichts! … Tja, der ist selbst zur geistigen Vorbereitung seines Protests zu faul. Ein Jammertal.

Ich wähle nicht, weil ich nicht informiert bin, nicht die Werkzeuge besitze wie ein Akademiker (wie suche ich Infos, was muss ich wissen), mir Infos zusammenzusuchen und somit nicht zu einer Entscheidungsfindung gelangen kann, ohne mich mit den Parteien auseinander zu setzen! Bei diesem Hintergrund kann ich nicht ernsthaft eine Stimme abgeben, ich könnte im Nachhinein niemals begründen, warum ich der CDU und z. B. nicht einer rechten Partei meine Stimme gegeben habe!

Ich wähle nicht, weil ich den Politikern nichts mehr glauben kann. Vor der Wahl wird alles versprochen und hinterher kann keiner, mit immer neuen Begründungen, die Versprechen halten. Die Politiker lassen sich von der Großindustrie zu deren Nutzen leiten, kürzen dem Bürger sein schwer verdientes Geld , um es der Industrie und deren Managern in den Rachen zu werfen. Die Politiker von ganz Europa sind nicht fähig, dem Bürger Hoffnung zu geben. Ich werde wahrscheinlich zur Wahl gehen, aber den Wahlzettel ungültig abgeben.

Ich wähle nicht, weil ich überhaupt keinen Schimmer von Politik habe. Und nur weil mir ein Gesicht besser gefällt als das andere, sehe ich das nicht als Grund genug an, um wählen zu gehen.

Ich wähle nicht, weil mein „Freund“ Schröder mit den Grünen gezeigt hat, wie man ein Land lächelnd in den Ruin treibt. Ich wähle nicht, weil die CDU keinen vernünftigen Kanzlerkandidaten hat und wohl kaum etwas für den kleinen Arbeiter tun wird (obwohl es uns beim dicken Kohl noch besser ging). Ich wähle nicht, weil wohl viele in ihrer Wahlverzweiflung auf den sozialistischen Weg geraten und die PDS/SED/LINKE wählen werden. Gebt ihnen Steine und Zement, damit sie die Mauer wieder aufbauen können! Ich wähle nicht, weil ich kein Unternehmer bin und somit die FDP nicht mehr in Frage kommt. Übrig bleiben nur Juxparteien wie die Biertrinker oder Autofahrer oder wie sie in den vergangen Jahren immer hießen. Die Parteien bekommen für jede erhalte Stimme bares Geld. Dieses Geschenk kann ich diesmal einfach nicht einpacken.

Wählen? Parteien? Abgeordnete? Was interessiert mich Politik! Mir geht’s doch gut …

Ich wähle nicht, weil ich mich nicht entscheiden kann, wen ich wählen soll. Egal, welchen der Kandidaten man wählt, es kann nur schlimmer werden.

Wenn das System eines Tages ehrlich genug ist, dass ich meine Stimme für Pharmaindustrie, Autohersteller und Energiewirtschaft geben kann, mache ich mein Kreuzchen. Die Parteien selbst sind nichts weiter als deren Marionetten, die zu funktionieren haben.

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