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Alles ist modern

Silhouetten in Bewegung. Schwarze Figuren vor lichtem Hintergrund. So sehen von den 1920er-Jahren an die animierten Scherenschnittfilme von Lotte Reiniger aus. (Ab 1955 gibt es auch Farbfilme.) Gesichter und Körper und Tiere und Wälder und Paläste und Kleider und Körperschmuck gibt es nur im Profil. Scharf gezeichnete Haarbüschel, markante Züge, filigran durchbrochener Kopfschmuck – asiatisch, orientalisch, märchenhaft – und Bärte, immer wieder Bärte. Den tollsten und wichtigsten und bösesten Bart hat der Zauberer aus „Kalif Storch“, denn darin sitzt seine ganze magische Kraft.

Märchen aus Tausendundeiner Nacht („Aladin und die Wunderlampe“), der Brüder Grimm („Schneeweißchen und Rosenrot“) und von Wilhelm Hauff hat Lotte Reiniger am liebsten verfilmt. Ihr einziger, bereits 1923 entstandener Langfilm, „Die Abenteuer des Prinzen Ahmed“, ist eine Mischung unterschiedlicher Stoffe dieser Art. Als Scherenschnittanimationen umgesetzte Fabeln und Opernauszüge kommen hinzu: „Papageno“ fängt zu Mozarts Musik Vögel. Und in ihrer „Carmen“-Version nimmt Reiniger eine feministisch lesbare Umperspektivierung von George Bizets Oper vor.

Auf den ersten Blick sieht das alles, die Stoffe und die von chinesischen Vorbildern beeinflusste Technik, denkbar modernefern aus. Da liegt man aber ganz falsch. Lotte Reiniger bewegte sich in nächster Nähe zu avantgardistischen Künstlern vom Bauhaus bis zu Walter Ruttmann, der bei „Prinz Ahmed“ ihr Mitarbeiter war, und G. W. Pabst, zu dessen „Don Quixote“-Film sie Tricksequenzen beisteuerte. Mit Bert Brecht war sie gut bekannt, an ihrem Film „Doktor Doolittle und seine Tiere“ waren die Komponisten Kurt Weill, Paul Hindemith und Paul Dessau beteiligt.

Die Suche nach „einfachen Formen“ (André Jolles) gab es in den 1920ern eben auf der Rechten wie auf der Linken. Gerade die allem Zierrat und Ornament abgeneigte progressive Ästhetik suchte, Brecht und das Bauhaus voran, nach einer neuen Klarheit von Werk und Form. Tatsächlich ist an Lotte Reinigers Filmen nichts reaktionär, sondern alles modern. Etwa die selbstverständliche Verbindung von Handarbeit – Scherenschnitt und Legetechnik – mit der Trickfilmapparatur. Und nicht zuletzt der entschiedene Zug in Richtung abstrahierender Reduktion.

Die Kunst der Lotte Reiniger ist zweidimensional – aus Prinzip. Das Wesentliche ist Gestalt in Bewegung, ist Gehen, Tanzen, eine harmonische Choreografie der Gesten, der Haltungen, ist eine fantastische Welt, dynamisch aufgelöst in Umriss und Fläche. Über die filigrane Schönheit, die so entsteht, kann man immer nur staunen. Die Illusion, die Lotte Reiniger in ihren Scherenschnittfilmen erzeugt, geht nicht in die Tiefe.

Aber gerade in dem Maß, das sie in der Schärfe ihrer Vordergründe findet, in der perfekten Balance zwischen Traditionsbezug und kühner Abstraktion, liegt der Zauber dieses singulären Werks.

EKKEHARD KNÖRER

■ Bereits im vergangenen Jahr hat das DVD-Label „absolut MEDIEN“ eine Gesamtausgabe des Werks von Lotte Reiniger veröffentlicht. Die nun erschienene Auswahl „Lotte Reinigers schönste Filme“ ist ein repräsentativer Querschnitt. Die DVD ist ab rund 12 Euro im Handel erhältlich