: „Apokalypse gibt es schon genug“
ARTENSTERBEN Der Journalist und Biologe Lothar Frenz will mit seinem Buch „Lonesome George oder Das Verschwinden der Arten“ lieber komplexe biologische Prozesse erklären, als Schuldgefühle zu wecken
■ Der Arten-Reisende ist Biologe, wurde 1964 geboren und arbeitet viel für den NDR und die Zeitschrift Geo. Sein Buch „Lonesome George“ ist soeben bei Rowohlt erschienen, 352 Seiten, 19,95 Euro.
INTERVIEW KAREN GRASS
taz: Herr Frenz, neulich ist Lonesome George, die letzte Galápagos-Riesenschildkröte, gestorben – und somit der Coverboy Ihres neuen Buchs. Wie haben Sie den Medienhype um George erlebt?
Lothar Frenz: Ich war auch erst mal völlig platt. Es ist schon verrückt, wenn so ein Tier, das so lange leben kann, dann plötzlich stirbt. Lonesome Goerge war nun mal eine der Naturschutzikonen, also ein Symbol für das Verschwinden der Arten. Dass das Tier nun so überraschend gestorben ist, zeigt eigentlich noch einmal die Brisanz des Themas: Da ist mutmaßlich nur noch ein Vertreter einer Art, und dann stirbt der ganz unerwartet in einer Forschungsstation unter den Augen seiner Pfleger. Insofern wundert es mich nicht, dass er auf den Titelseiten war.
Um andere aussterbende Arten wird längst nicht so viel Aufhebens gemacht – Sie stellen viele von ihnen in „Lonesome George“ vor. Bekommen sie genug Aufmerksamkeit?
Leider nein. Aber genau deshalb braucht man Flaggschiffarten wie Lonesome Goerge, deren individuelle Schicksale man nutzen kann, um auf das globale Phänomen des Aussterbens aufmerksam zu machen. Als ich mich an dieses Buch gemacht habe, dachte ich: Ob ich da nicht in ein Mainstreamthema falle, man hört ja momentan überall in den Medien von aussterbenden Arten, immer wieder gibt es Filmdokumentationen oder Artikel. Doch als ich meinen fachfremden Bekannten von dem Plan erzählte, sagten die: Das ist interessant, man hat ja gar keinen Überblick mehr. Die Leute haben zwar ein ungefähres Bewusstsein dafür, dass es nicht gut ist, wenn Arten verschwinden – aber wie das abläuft und was es am Ende für den gesamten Planeten bedeutet, dafür fehlt der Blick.
Sie verwenden einen eher an Romane erinnernden erzählenden Stil, hängen vieles an einzelnen Personen und Tieren auf. Braucht das Thema Artenvielfalt plakative Bilder, damit es interessiert?
Apokalypse gibt es gerade schon genug. Andauernd hört man, wie schlecht es um die Umwelt steht. Das ist gefährlich, weil die Leute irgendwann abschalten. Deshalb versuche ich, Geschichten zu erzählen und nicht ständig den moralischen Zeigefinger zu heben. Indem ich Einzelfälle detailliert aufschreibe, habe ich versucht, auch tragikomische und intime Situationen zu erzeugen. Das soll animieren weiterzulesen, auch wenn es dann in komplexe biologische Prozesse führt. Das Buch soll Aha-Effekte wecken und keine Schuldgefühle.
Als Biologe und passionierter Journalist im Bereich Umweltthemen sind Sie viel unterwegs. Was war Ihr eindringlichstes Erlebnis mit einem Tier?
Es sind gar nicht immer diese großen Tierbegegnungen. Ich war für diverse Filmprojekte schon oft in Amazonien unterwegs, auf diesen unglaublichen Flüssen. Dort bekommt man das einzigartige Gefühl, dass es noch Natur gibt, die vom Menschen so gut wie gar nicht beeinflusst ist. Auf einer dieser Reisen haben wir auch ein neues Tier entdeckt, das Riesenpekari. Dass wir damit das größte Schwein Südamerikas gefunden und auch gleich vor der Linse hatten, war schon großartig.
Was bedeutet es, wenn man die Schönheit bestimmter Arten nicht mehr erleben kann?
In der Umweltforschung spricht man vom Shifting-Baseline-Syndrom: Unsere Wahrnehmung dessen, was langfristig geschieht, sprich unser Horizont ist äußerst beschränkt. Man glaubt, dass das, was man in seinem Lebensumfeld sieht und womit man aufwächst, die Welt sei. Doch von dem, was mal war und was möglich wäre, hat man keine Ahnung. Außerdem bedeutet Globalisierung auch einen Verlust der Vielfalt: Heute fährt man ans andere Ende der Welt und findet häufig das Gleiche wie in unseren Breiten.
Viele der Ursachen unserer heutigen, einfältigen Biosphäre schreiben Sie dem Menschen zu. Bauen Sie da nicht auch Horrorszenarien auf?
Nein. Ich beschreibe, was heute schon da ist, das hat nichts mit Horrorszenarien zu tun. Aber der Mensch greift oftmals auf eine Art und Weise in die Umwelt ein, die er gar nicht beherrschen und überschauen kann. Weltweit sterben Amphibienarten in schneller Folge aus, und jahrelang hat man gerätselt, warum das so ist. Nun weiß man, dass es wahrscheinlich ein Pilz ist, für den die Tiergruppe besonders anfällig ist. Und der wurde paradoxerweise wohl auch von den Wissenschaftlern verbreitet, die seltene Amphibien in abgelegenen Regionen unter dem Gesichtspunkt der Artenvielfalt erforschen wollten. Wenn man solche Entwicklungen recherchiert, braucht man keine zusätzliche Dramaturgie einzubauen. Da ergibt sich das Gruseln von selbst.
Dennoch ist der Mensch auch eine Stufe der Evolution, das kann doch nicht nur negativ sein.
Meine Grundhaltung ist ja: Ich bin gern Mensch. Ich nutze gern diese modernen Dinge, ich fliege um die Welt, wende hoch modernde Technik an und bin fasziniert von wissenschaftlichen Möglichkeiten, die mir helfen, ganz nah an die Natur heranzukommen. Und die Auswirkungen menschlicher Eingriffe können natürlich auch interessant sein. Im ostafrikanischen Viktoriasee haben die Menschen in den Fünfzigern Nilbarsche ausgesetzt, der hat dort Hunderte von Arten aufgefressen. Also erst mal Zerstörung. Die restlichen Arten fangen an, sich körperlich zu verändern, um trotz beziehungsweise mit dem Nilbarsch leben zu können, da ist Evolution im Gange. Das ist biologisch hochspannend! Aber positiv kann ich das nicht sehen. Da bin ich mit der Hightech-Maschine nach Neuseeland gelangt und sehe diese vielen seltenen Vogelarten dort. Und am Ende überwiegt der Frust, dass sie nur noch dort auf winzigen, vorgelagerten Inseln überlebt haben.
Das hört sich nun aber doch nach Apokalypse an.
Nein, für Fatalismus ist es zu früh, denn es zeigt sich auch: Die Natur holt sich Flächen und Räume zurück, wenn der Mensch sie lässt. Ein verrücktes Beispiel ist die Region um Tschernobyl, in der sich seltene Tierarten wieder ansiedeln. Und zwar in einer Zahlenstärke, wie sie sie sonst nur in relativ unberührten Gegenden erreichen. Warum das dort so ist und welche Schlüsse sich daraus ergeben, dazu gibt es bislang noch viel zu wenig Forschung. Man kann deshalb kaum sagen, wie groß die Potenziale renaturierter Flächen sind.
Sie beschreiben verschiedene Versuche, Tierarten zu retten. Darf man Tiere klonen, um bedrohte Arten zu bewahren?
Bislang hat das im größeren Stil ja noch gar nicht geklappt. Ich glaube, es gibt keine Alternative dazu, die Arten rechtzeitig zu schützen und zu schonen, bevor man in die Situation kommt, den letzten Vertreter klonen zu müssen. So spektakulär es wäre, wenn da wieder ein Mammut stünde – es hat mehr Sinn, seine Ressourcen da reinzustecken, die jetzt noch vorhandenen Tiere nicht erst in Bedrängnis zu bringen. Gefährlich ist auch der Gedanke: Ach, alles halb so schlimm mit dem Artensterben, wir können ’s ja wieder reparieren, wir haben unsere Updates eingefroren. Generell kann der Mensch niemals abschätzen, was er mit einer Maßnahme genau bewirken wird. Der Versuch, die Plage der Achatschnecken auf der Insel Moorea durch Aussetzen der rosigen Wolfschnecke zu begrenzen, ist grandios gescheitert: Stattdessen rottete man andere Schneckenarten aus. In manchen Situationen kommt man aber nicht mehr umhin, auch Schutzzonen künstlich aufzubauen. Ein bemerkenswertes Projekt findet momentan etwa im Münsteraner Zoo statt: Da züchtet eine Privatperson knapp 20 der seltensten Schildkrötenarten nach – weil die Bestände in den Wäldern Südostasiens gnadenlos leergeplündert werden.
Es gab auch früher Massensterben, etwa durch den Meteoriten-Einschlag zur Zeit der großen Echsen. In den vergangenen 400 Jahren sind jedoch über 300 Säugetier-, Vogel- und Reptilienarten ausgestorben. Was unterscheidet frühere Massensterben vom heutigen?
Frühere Massensterben hingen immer mit geologischen Veränderungen zusammen. Das Massensterben derzeit, also seit der Existenz des Menschen, hat erstmals eine einzige Spezies zur Ursache. Nicht umsonst spricht man vom anthropozänen Zeitalter, alle anderen waren vor allem nach den geologischen Merkmalen benannt. Der Mensch verändert die gesamte Erdoberfläche und prägt sie für Jahrmillionen, allein mit seinem Baggern und Buddeln nach Erdschätzen. Der zweite Punkt ist: Das Tempo der Veränderung nimmt unglaublich zu. Während Massensterben sich früher über Jahrtausende und sogar Jahrmillionen hinzogen, geht heute mit der Globalisierung und dem Klimawandel alles viel schneller. Viele Arten, die bereits durch veränderte Lebensräume vorgeschädigt sind, können damit nicht mehr umgehen und überleben das nicht.
„Der Natur ist das alles egal“, lautet ihr Fazit im Epilog. Läuft es tatsächlich wie nach jedem bisherigen Massensterben, und die Natur erfindet einfach wieder etwas Neues?
Die bisherige Erdgeschichte hat gezeigt, dass die Natur nach jeder verheerenden Ausrottung etwas Neues geschaffen hat, etwas völlig anderes. Es gab einen Evolutionsschub. Mein Traum wäre, dass wir als Menschen eine Möglichkeit finden, wie wir und andere Spezies auf diesem Planeten Platz haben. Dazu muss aber das Steuer herumgerissen werden. Vor allem die ungerechte Verteilung auf der Erde müssen wir angehen, damit die vielen Milliarden Menschen in ärmeren Regionen überhaupt nur die Chance haben, sich über Nachhaltigkeit Gedanken zu machen. Man kann schon heute viel tun, um eine ausgeglichenere Biosphäre zu bekommen. Aber dafür brauchen wir weltweit ein breiteres Verständnis für den Wert der Artenvielfalt.