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Archiv-Artikel

Begegnungen am grünen Fluss

Eine Paddeltour auf der masurischen Krutynia. Hier leben Deutsch- und Russischstämmige in alten, verträumten Dörfern. Deutsche Touristen belegen die kleinen Herbergen. Zelten kann man überall am Ufer

von GABRIELE LESSER

Eine lichte Grotte aus grünen Blättern ist die Krutynia. Ein Fluss in Masuren, der sich smaragdgrün durch die Wildnis schlängelt. Leuchtende rubinrote Steine auf dem flachen Grund verleiten immer wieder dazu, die Hand ins glasklare Wasser zu strecken und eines dieser Kleinode zu bergen. Zweier- oder Viererkajaks mit ganzen Familien gleiten lautlos unter dem Blätterdach dahin. Zu hören sind vor allem die Vögel. Zum Plätschern und Glucksen des Wassers balzen, schnarren, tirilieren sie, klopfen Löcher ins Holz, klappern und zwitschern. Mitten in dieser lebendigen Flusswelt liegt das Fischerdorf Krutyn.

„Ja, mejn Marjellchen“, ruft mir Eckart Rudnik gut gelaunt zu und stakt den flachen Kahn flussaufwärts. „Jemietlicher jehts nich mär.“ Rudnik gehört mit Brygida Nosek und Krystyna Koziol zu den letzten „Autochthonen“ in Krutyn, wie die Deutschen in Polen genannt werden, die nach 1945 in Ostpreußen blieben. Krutinnen oder Krutyn, wie der Ort heute heißt, hat sich kaum verändert. Das malerische Masurendorf mit seinen windschiefen Holzzäunen ist die Hochburg der „Staker“. Der Fluss ist hier gerade mal 65 Zentimeter tief, doch die Strecke vom Krutinner See über Krutyn und Wojnowo (Eckertsdorf) mit dem Philipponenkloster aus der Zarenzeit bis nach Ukta ist so schön, dass viele Kajakfahrer für ein bis zwei Stunden auf eines der flachen Holzboote umsteigen und sich staken lassen.

„Es kommen viele Deutsche“, erzählt Eckart. Die Kajakstrecke ist bei Touristen beliebt, und nach Mikolajki (Nikolaiken), dem „Venedig Masurens“, ist es nicht weit. Viele im Dorf sprechen inzwischen Deutsch. „Zimmer frei“ steht an jedem dritten Haus, und selbst die Speisekarten in den Gaststätten und Fischbrätereien sind zweisprachig. Doch wer gerne urige Geschichten oder alte Volkslieder im ostpreußisch-breiten Dialekt hören möchte, muss schon nach Eckart, Brygida oder Krystyna fragen. Krystyna ist die zupackend-resolute Seniorin der Staker. Viele nennen sie respektvoll die „Königin der Krutynia“.

Die klassische Krutynia-Route beginnt am Sorquitter See/Jezioro Lampackie bei Sensburg/Mragowo und führt zuerst südostwärts bis zum Muckersee/Jezioro Mokre, passiert Krutinnen/Krutyn, um dann nach mehreren Windungen im Beldahn-See/Jezioro Beldany zu enden. Auch für Amateurpaddler, die ein gemächliches Tempo vorlegen, ist die Strecke von rund 100 km Länge in acht bis zehn Tagen zu bewältigen. Zelten kann man überall am Ufer. Aber auch Pensionen und Hotels sind darauf eingestellt, ihre Gäste samt Boot von einem vorab vereinbarten Treffpunkt am Fluss abzuholen.

Die abwechslungsreichste Strecke beginnt am Krutinner See/Jezioro Krutynskie, wo die Flussufer so nah zusammentreten, dass sich die Baumwipfel berühren und eine lang gestreckte, intensiv grün leuchtende Grotte entsteht. Hinter Krutinnen/Krutyn schlängelt sich das Flüsschen durch Kartoffel- und gelb leuchtende Rapsfelder und verschwindet schließlich im dichten grünen Schilf. Spannend wird es wieder in Eckertsdorf/Wojnowo, wo unversehens eine hellblau getünchte Kirche mit Zwiebelkuppel, Glockenstuhl und dem dreibalkigen Kreuz der Orthodoxen auftaucht. Mütterchen Russland mitten in Masuren? Auch die Blockhäuser und das Kloster der Altgläubigen könnten eher am Ufer der Wolga stehen denn an der Krutynia.

Eckertsdorf gehört zu jenen elf Dörfern, die russische Glaubensflüchtlinge um 1830 in Masuren gründeten. Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. nahm die Altgläubigen oder „Philipponen“ auf, gewährte ihnen Religionsfreiheit, erwartete aber, dass sie im Gegenzug die Sumpfwildnis im Krutinner und Nikolaiker Forst urbar machten und das Land kultivierten. Jahre später trat ein großer Teil der Klostergemeinschaft zum russisch-orthodoxen Glauben über. Heute leben hier kaum noch Nachkommen der Russen. Nur im Kloster wohnt noch eine von einst 25 Nonnen der Altgläubigen.

Wieder im Kajak, verschwindet diese schon fast versunkene Welt altrussischer Gläubigkeit schnell. Die Krutynia schlängelt sich weiter gen Norden, durch Ukta hindurch und an Neubrück/Nowy Most vorbei. Von dort ist es nicht mehr weit bis zum Beldahnsee/Jezioro Beldany, der kleinen und fast schon mondänen Sommerfrische Nikolaiken/Mikolajki und dem größten See Masurens, dem Spirdingsee/Jezioro Sniardwy oder „Masurischen Meer“.

Hier, nahe der Mündung der Krutynia in den Beldahn-See, warten bereits die „Galinder“ auf die Paddler. Überlebensgroße hölzerne Wächter hüten das Tor zur Palisadenburg „Galindia – Mazurski Eden“. Mit diesem ungewöhnlichsten Hotel in ganz Masuren hat sich der Psychotherapeut und Künstler Cezary Kubacki seinen skurrilen Lebenstraum erfüllt und die Welt des heidnischen Pruzzenstammes der „Galinder“ neu belebt. Vor über tausend Jahren lebten die Galinder in den Urwäldern des masurischen Seenreichs, galten als streitlustig und ihren Göttern zugetan. Im Mittelalter, als der Deutsche Orden die Heiden im Osten Europas christianisierte und ihnen ihr Land nahm, wurden auch die Galinder unterworfen.

Kubacki lässt sich bis heute von alten Legenden und archäologischen Funden inspirieren. Der Skulpturenpark der Götter und Geister am See, die Galeere und der Zechraum in der Kellergrotte verlocken am Reiseende zum ausgiebigen Galindern.