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Archiv-Artikel

„Industrielle Schulen ruinieren Schüler“

Schulen und Lernen gelingen besser, wenn sie basisdemokratisch organisiert werden, ist Michael Sappir überzeugt, der eine Jerusalemer Schule besucht. Denn die Schüler bestimmen dann die Regeln. Und sie suchen sich selbst aus, was sie lernen wollen. Formales Lernen setzt Familien unter Druck

INTERVIEW OLE SCHULZ

taz: Michael, Schuldemokratie – was bedeutet das für dich?

Michael Sappir: Demokratie an meiner Schule ist kein Selbstzweck. Wir nutzen die demokratischen Spielregeln dazu, die Dinge so zu organisieren, wie wir es wollen. Bei uns hat jeder die Freiheit, das zu machen, worauf er Lust hat. Keiner sagt den Schülern, was sie zu tun haben, sondern sie machen das, was sie interessiert.

Wie ist das organisiert?

Es gibt zwei demokratische Institutionen: die Schulversammlung, die einmal wöchentlich zusammentritt und bei der jeder, ob Schüler oder Lehrer, eine Stimme hat. Hier werden die für alle geltenden Regeln festgelegt – mit der Mehrheit der Schüler. Zudem gibt es ein Justizkomitee, das täglich für eine Stunde zusammentritt. Es entscheidet über Beschwerden und Regelverletzungen. Alles in allem klappt das sehr gut.

Spricht diese Kommission auch Strafen aus?

Im Prinzip schon. Wenn jemand das erste Mal gegen eine Regel verstößt und es sich um kein gravierendes Vergehen handelt – wie Gewalt gegen Dinge oder Mitschüler –, dann gibt es nur eine Verwarnung. Im Wiederholungsfall kann es eine Geldstrafe geben, die aber nie hoch ist. Und wenn jemand an einem bestimmten Ort Ärger gemacht hat, kann ihm für eine Weile verboten werden, sich dort aufzuhalten. Bei wirklich schweren Vergehen kann die Schulkommission per Mehrheitsbeschluss entscheiden, das Kind von der Schule zu verweisen. Bisher ist das aber nur einmal geschehen.

Können die Schüler bei allen Fragen mit stimmen, zum Beispiel auch über die Finanzen?

Wir glauben, dass es keinen besseren Weg gibt, den Umgang mit Geld zu erlernen, als direkt damit zu tun zu haben. Wer das jährliche Budget zu verteilen hat, lernt sehr schnell. Sogar meiner Mutter ist das so ergangen – und sie hat immerhin die Schule mit gegründet.

Aber ist denn ein Kind, das gerade eingeschult wurde, dazu überhaupt in der Lage?

Die jüngeren Schüler enthalten sich in der Regel der Stimme, wenn sie eine Materie nicht verstehen. Außerdem werden alle Fragen vorher diskutiert. Wenn einer etwas nicht genau versteht, dann wird es ihm eben erklärt.

Wie sieht denn ein typischer Tag in der Jerusalem Democratic School aus?

Jeder Tag ist anders. Jeder organisiert ihn nach seinen persönlichen Interessen. Offen ist die Schule jedenfalls von acht Uhr morgens bei drei Uhr nachmittags. Wegen der schwierigen politischen Lage in Jerusalem darf man die Schule zwischendurch leider nicht alleine verlassen – nur in Begleitung eines Erwachsenen.

Gut, aber wie verläuft ein typischer Schultag für dich?

Weil ich Vorsitzender der Computergruppe bin, halte ich mich häufig im Computerraum auf, um zu helfen. Dann höre ich gerne Musik, vor allem aber unterhalte ich mich sehr viel mit anderen. Manchmal lese ich auch oder spiele vor der Schule oder mache dort Sport. Wer will, der darf auch zwei Tage im Monat unentschuldigt fehlen. Nur wenn man der Schule länger fernbleiben möchte, muss man das bei der Schulversammlung beantragen.

Das Konzept der amerikanischen Sudbury Valley School gilt innerhalb der demokratischen Schulen als das konsequenteste. Auf regulären Unterricht in der Klasse wird im Allgemeinen verzichtet.

A priori gibt es bei uns keinen formalen Unterricht. Wenn Kurse eingerichtet werden, dann, weil sich Kinder gemeinsam entschlossen haben, in einem bestimmten Gebiet unterrichtet zu werden – zum Beispiel über Genetik oder die philosophische Schule des Idealismus. Der Unterricht findet dann in offener Form statt, ähnlich wie ein Diskussionszirkel. Lernen ist bei uns häufig informeller Natur: Man liest über ein Thema, das einen interessiert, und wenn man nicht weiterkommt, fragt man jemand, der besser darüber Bescheid weiß. Wir sind der Überzeugung, dass man am besten durch das Leben selbst und den Kontakt mit anderen Menschen lernt, dadurch, dass man mit ihnen kommuniziert.

Brauchen nicht gerade jüngere Schüler eine Anleitung durch Erwachsene?

Nein. Sondern vor allem jene, die durch die regulären, industriellen Schulen ruiniert wurden.

Wieso sprichst du von industriellen Schulen?

Weil sich dieser Schultyp der Massenabfertigung seit seiner Einrichtung im Zeitalter der industriellen Revolution kaum geändert hat. Kinder, die nie in eine solche Schule besucht haben, haben meistens keinerlei Probleme, herauszufinden, was sie wollen. Sie sind es gewohnt, sich selbst zu beschäftigen.

Wer sind die Risikoschüler?

Größere Schwierigkeiten haben ältere Schüler, die von normalen Schulen zu uns kommen, und die gewöhnt sind, das zu machen, was man ihnen vorgibt. Die jüngeren Schüler bei uns spielen viel, gerade dadurch lernen sie viel. Und wenn sie älter werden, fangen sie von alleine an, sich mit ernsthafteren Fragen zu beschäftigen. Bei uns können zum Beispiel nicht alle Kinder schon mit acht Jahren gut lesen und schreiben. Irgendwann lernen sie es alle.

Es gibt den Vorwurf gegenüber demokratischen Schulen, dass sie elitäre Privateinrichtungen seien – auch weil sie viel Geld kosten.

Elitedenken ist keinesfalls Teil unserer Philosophie. Schulgebühren von rund 200 Euro monatlich für das erste Kind sind einfach deshalb notwendig, weil wir kein Geld vom Staat erhalten. Außerdem erhalten bei uns Familien Ermäßigungen, die nicht in der Lage sind, den vollen Betrag zu zahlen.

Was unterscheidet dich von deinen Freunden, die „normale“ Schulen besuchen?

Viele von ihnen erscheinen mir unglücklicher – mit dem Leben allgemein und mit ihren Schulen im Speziellen. Viele haben große Konflikte mit ihren Familien, während ich mich nur selten mit meinen Eltern streite – weil sie mich machen lassen, wozu ich Lust habe. Freunde von mir, die auf andere Schulen gehen, werden von ihren Eltern ständig unter Druck gesetzt, zum Beispiel dass sie ihre Hausaufgaben machen müssen. Ich finde es traurig, dass herkömmliche Schulen in den Familien so viele Spannungen produzieren.