: Jagdbomber als Amtshilfe
JUSTIZ Eine Vollversammlung der Verfassungsrichter ändert mit dem Urteil de facto das Grundgesetz
■ Seit 1968 kann die Bundeswehr auch im Innern eingesetzt werden. Nach langen Auseinandersetzungen war damals das Grundgesetz im Hinblick auf Notstandsfälle ergänzt worden. Möglich ist ein Bundeswehreinsatz seitdem in folgenden Fällen:
■ Im Verteidigungs- und im Spannungsfall kann die Bundeswehr auch zivile Objekte schützen. Wenn es zur „Erfüllung des Verteidigungsauftrags“ notwendig ist, kann sie außerdem den Verkehr regeln (Artikel 87 a Absatz 3).
■ Bei Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand des Bundes oder eines Landes kann die Bundeswehr zum Objektschutz, aber auch zur Bekämpfung „bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. Voraussetzung ist, dass Landespolizei und Bundesgrenzschutz überfordert sind (Artikel 87 a Absatz 4). Bisher war dies nicht erforderlich.
■ Außerdem kann ein Land die Bundeswehr bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall zur Hilfe anfordern (Artikel 35 Absatz 2). Auch ohne ausdrückliche Grundgesetzänderung werden weitere Fälle von Bundeswehreinsätzen im Innern seitdem für zulässig erklärt:
■ Als schwerer Unglücksfall gemäß Artikel 35 Absatz 2 gilt seit einem Karlsruher Urteil 2006 auch ein drohender Terrorangriff. Die Bundeswehr darf deshalb erstmals auch zur Terrorabwehr eingesetzt werden. Mit der jetzigen Entscheidung wird ihr dabei auch die Benutzung militärischer Waffen erlaubt.
■ Von technischer Amtshilfe spricht man zum Beispiel, wenn die Bundeswehr beim Evangelischen Kirchentag Betten aufbaut oder wenn sie vor einem Castortransport die Bahnstrecke aus der Luft auf Hakenkrallen überprüft. Auch die Tornado-Überflüge beim G-8-Gipfel von Heiligendamm galten nur als technische Amtshilfe. Gestützt wurde all dies auf die allgemeine Amtshilfevorschrift im Grundgesetz (Art. 35 Absatz 1). Die Bundeswehr darf dabei keine Waffen einsetzen. (chr)
VON CHRISTIAN RATH
Die Bundeswehr darf zur Abwehr terroristischer Angriffe auch militärische Waffen wie Jagdflugzeuge einsetzen. Dies entschied jetzt der Große Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Eine entsprechende Grundgesetzänderung ist damit überflüssig geworden.
Konkret ging es um das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz, das seit 2005 den Umgang mit potenziell gefährlichen Passagierflugzeugen regelt. Das Gesetz erlaubte der Bundeswehr, von Terroristen entführte Jets abzudrängen und notfalls abzuschießen – bevor sie als Großwaffe wie bei den Anschlägen am 11. 9. 2001 in den USA benutzt werden.
Auf Klage von FDP-Politikern wurde die Abschussregelung allerdings 2006 vom Ersten Senat des BVerfG für verfassungswidrig erklärt. Sie verstoße gegen die Menschenwürde. Außerdem – und darauf kam es jetzt an – verbiete das Grundgesetz generell eine Amtshilfe der Bundeswehr mit militärischen Waffen. Doch dann kam eine weitere Klage der Länder Bayern und Hessen. Verhandelt wurde vor dem für Bund-Länder-Streitigkeiten zuständigen Zweiten Senat. Die Länder monierten, dass das Luftsicherheitsgesetz der Bundeswehr immer noch das Abdrängen von entführten Jets erlaube. Auch dieser Einsatz der Luftwaffe sei eine unzulässige militärische Amtshilfe für die eigentlich zuständigen Länder.
Schon in der mündlichen Verhandlung im Februar 2010 hatte sich angedeutet, dass der Zweite Senat unter Andreas Voßkuhle von der Rechtsprechung des Ersten Senats im Jahr 2006 abweichen will. Die von Bayern und Hessen angemahnte Verfassungsänderung sei wohl überflüssig, weil das Grundgesetz heute schon militärische Amtshilfe erlaube.
Nun musste also der Große Senat, die Vollversammlung aller 16 Verfassungsrichter, schlichten. In der über 60-jährigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichts war dies erst fünfmal erforderlich.
Dabei hat sich im Wesentlichen der militärfreundlichere Zweite Senat durchgesetzt. Nach der jetzt veröffentlichten Entscheidung erlaubt das Grundgesetz schon heute den Einsatz „spezifisch militärischer Waffen“ zur Abwehr schwerer Unglücksfälle. Wenn das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr zulasse, sei logischerweise auch der Einsatz von Panzern und Jagdbombern gemeint, so die Argumentation. Die Klage von Bayern und Hessen wird wohl alsbald abgewiesen werden.
Als Zugeständnis an den Ersten Senat hat das Karlsruher Plenum nun aber mehrere Einschränkungen beschlossen. So darf nicht jede Lage, die die Polizei überfordert, als „schwerer Unglücksfall“ eingestuft werden, es müsse sich um einen Zwischenfall „katastrophischen Ausmaßes“ handeln. Das heißt: Wenn ein Angriff auf ein Kernkraftwerk droht, darf die Bundeswehr eingesetzt werden, wenn ein Anschlag auf einen Politiker droht, muss die Polizei selbst eingreifen.
Zweitens dürfen Gefahren, die von Demonstrationen ausgehen, nicht als „schwerer Unglücksfall“ eingestuft werden. Damit ist aber zunächst nur ein bewaffneter Einsatz der Bundeswehr bei Demonstrationen sicher ausgeschlossen. Die unbewaffnete Präsenz der Bundeswehr bei Demonstrationen wie 2007 in Heiligendamm war jedoch bisher nicht als Einsatz, sondern als technische Amtshilfe eingestuft worden (siehe Text unten). Das erklärt das Plenum an anderer Stelle nun für unzulässig, wenn „Mittel der Streitkräfte in ihrem Droh- und Einschüchterungspotenzial genutzt werden“.
Drittens müsse der schwere Unglücksfall bereits begonnen haben und der Eintritt des Schadens „unmittelbar bevorstehen“ – falls nicht die Bundeswehr hilft. Ein bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Vorfeld von Gefahren ist damit ausgeschlossen.
Viertens dürfe nur die Bundesregierung den Einsatz anordnen, ein Befehl des Verteidigungsministers genüge nicht.
Richter Reinhard Gaier, der dem Ersten Senat angehört, hat trotz dieser Zugeständnisse ein Minderheitsvotum verfasst. Er hält daran fest, dass das Grundgesetz der Bundeswehr derzeit bei Unglücksfällen den Einsatz militärischer Waffen verbietet. „Wenn das Öffnen einer Tür verboten ist, dann kann es nicht erlaubt sein, sie auch nur einen Spalt weit zu öffnen“, schrieb Gaier. Die Einschränkungen der Mehrheit seien zudem zu unbestimmt und daher praktisch nicht viel wert.
Der Abschuss von voll besetzten Flugzeugen ist von der neuen Entscheidung nicht betroffen. Das Herunterholen eines Passagierjets bleibt weiterhin verboten, da die Opferung unschuldigen Lebens gegen den Schutz der Menschenwürde verstößt. Ohne Grundgesetzänderung könnte der Bundestag nun aber ein Gesetz beschließen, das den Abschuss eines Flugzeuges erlaubt, in dem nur Terroristen sitzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen