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Archiv-Artikel

Schlussstrich?

Nach der Aufregung um Schönbohm: Wie viel DDR braucht man zur Erklärung des Kindermords?

Man kommt mit einer pauschalen Verunglimpfung von Ostbiografien nicht durch. Immerhin! Das ist das positive Ergebnis, das sich aufgrund der einhelligen Ablehnung von Jörg Schönbohms eigenwilligen Thesen über die Gründe des Kindermords von Brieskow-Finkenheerd feststellen lässt. Auf die Merkel-Linie können sich hier alle einigen: „Ein solch furchtbares Verbrechen kann und darf man nicht mit pauschalen Einschätzungen dieser Art erklären.“ Dieser Satz der CDU-Kanzlerkandidatin ist Konsens.

Aber wie kommt man zu nicht mehr pauschalen Einschätzungen? Dies fragend, kann man ein Unbehagen an Teilaspekten der Empörung über Schönbohm entwickeln. Es gibt in ihr eine über den konkreten Fall hinausschießende Energie, die darauf hinzielen könnte, die Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit insgesamt zu tabuisieren. Der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck und der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse etwa haben der Schönbohm’schen These von der angeblich fehlenden Wertevermittlung in der sozialistischen Diktatur ein in idyllischen Farben gemaltes Bild von nachbarschaftlicher Solidarität in Hausgemeinschaften und Arbeitskollektiven entgegengesetzt. Dieses Pauschallob der DDR-Gesellschaft – oder doch von einigen Aspekten von ihr – hat mit dem Fall Sabine H. ebenso wenig zu tun wie die Pauschalverurteilung durch Jörg Schönbohm.

Thierse scheint, das legt sein Interview während der „Tagesthemen“ am Donnerstag nahe, insgesamt dahin zu tendieren, die DDR-Vergangenheit gar nicht mehr als Erklärungsmöglichkeit von gegenwärtigen Missständen in den neuen Ländern zuzulassen. Nun spricht auch aus den Mündern von Berufspolitikern manchmal nur die Genervtheit über ein Thema. Geschenkt. Aber Thierses Rededuktus wirkte tatsächlich so, als sei er kurz davor, einen Schlussstrich unter die DDR-Vergangenheit zu fordern. Und das geht nicht, da mögen Schönbohms Äußerungen noch so falsch sein. Wenn so etwas selbst einem so reflektierten Menschen wie Thierse unterläuft, muss man alarmiert sein.

Als alternativer Erklärungsansatz zu Schönbohm wird angeregt, die Verwerfungen während des Wendeprozesses als Hintergrund für die Tat heranzuziehen. Dies folgt der ehrwürdigen soziologischen These, nach der sich gesellschaftliche Krisensituationen in Unsicherheiten im individuellen Bewusstsein spiegeln. Wer wollte bestreiten, dass da was dran ist. Nur kann diese These allein eben auch nicht alles erklären. Jeder differenzierte Erklärungsversuch des Kindermords muss selbstverständlich auch die DDR-Vergangenheit berücksichtigen. Man braucht gar nicht auf andere schlimme Verbrechen verweisen, die in jüngerer Zeit auch in Brandenburg begangen wurden, um das zu begründen. Das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass Sabine H., die Mutter und mutmaßliche Täterin, die Hälfte ihres Lebens in der DDR verbrachte, und zwar Kindheit, Jugend und Pubertät. Wer sich ein Gesamtbild ihrer Persönlichkeit erarbeiten will, kommt ohne diese prägende erste Hälfte ihres Lebens gar nicht herum. Irgendetwas muss auch da gewesen sein.

Die Diskreditierung von Ostbiografien abzulehnen, kann nicht dazu führen, dass man die DDR-Vergangenheit ganz aus diesem Fall heraushält.

DIRK KNIPPHALS