Der Summton bleibt

Die französische Sängerin Camille – nach dem Erfolg mit Nouvelle Vague nun auf Solotour – beendet die Popdeurope in der Treptower Arena. Dabei stellt sie mal eben die Musikgeschichte auf den Kopf

VON MARIA KRAUSCH

Barfuß steht ein weißgekleidetes Mädchen auf der Bühne. Durch die riesige Halle der Treptower Arena hallt die zarte Stimme von Camille. Sie singt mit geschlossenen Augen von der Liebe. Ein Zuschauer lässt seine Zigarette abbrennen, ohne daran zu ziehen. Die Zeit steht still für die Französin mit der prägnanten Stimme. Ein warmer gleichbleibender Ton begleitet ihren Gesang, wie der weiße Faden, der über die gesamte Bühne gespannt ist. Es liegt Erotik in der Luft.

Sie benutzt ihre Stimme als Instrument, blubbert, pfeift und trompetet. Dann durchbricht sie die Spannung der Zuschauer plötzlich durch ihre wilde Performance: Sie schreit, springt, klatscht in die Hände und tanzt sich selbst in Ekstase. Das Publikum tanzt und singt mit, um dann wieder von ihrer Unberechenbarkeit in die Stille einer Ballade gestürzt zu werden.

Bei dem Chanson „Ta douleur“ lässt sich Camille nur von einem Kontrabass begleiten, im Hintergrund summt der Ton ständig weiter, auch als sie den nächsten Song anstimmt. Diesen Basston hat sie von einem Sänger in der Pariser Métro gelernt, jetzt durchzieht er ihr gesamtes Album „le fil“ (Der Faden) und das Konzert. Ihre Unberechenbarkeit, ihren Wechsel zwischen Humor und Nachdenklichkeit scheint sie in einem einzigen Ton vereinen zu wollen.

Camille Dalmais komponiert, schreibt und singt jeden ihrer Chansons selbst. In Paris, wo sie Politik und Kunst studierte, nahm sie nebenbei Gesangsunterricht. Durch die Band Nouvelle Vague ist die Französin mit Coverversionen von Popklassikern wie „Love Will Tear Us Apart“ von Joy Division oder „Guns of Brixton“ von The Clash in Deutschland bekannt geworden. Chansontypisch ist sie da in unterkühlter Bossa-Nova-Pose zu hören.

Für ihr Debütalbum „le sac des filles“ (die Tasche der Mädchen), das 2002 erschien, modifizierte sie noch Chansons der 30er- und 40er-Jahre. Für das Album „le fil“ (2005) wagte sie sich schon sehr viel weiter in experimentelle Regionen vor. Eine große Bandbreite von Stilen durchzieht ihre Kompositionen: Soul, Gospel, brasilianische oder westafrikanische Musik. Dabei verquirlt sie alle Elemente, so dass sie in ihrer Experimentierfreude und Vielschichtigkeit mit Musikerinnen wie PJ Harvey oder Björk verglichen werden kann. „Ich liebe das Spiel und die Spielregeln. Ich möchte sie kennen lernen, um sie danach verändern zu können“, sagt die Sängerin in einem Interview und greift in ihren Kompositionen doch auf Chansons zurück, wenn auch sehr viel mutiger als ihre Chansonkollegen.

So umspielen ihre zwei Begleiter durch sanfte Pianostreicheleinheiten, Akkordeon oder Bass ihre kindliche, aufgeregte oder aggressive Stimme – ihr wichtigstes Instrument. Der Bassist wandelt sich nicht nur in eine Human Beat Box, um die stimmgewaltige Camille zu unterstützen, auch als Übersetzer helfen ihre Musikerkollegen: Camille will ihren Zuschauern erklären, dass sie das Lied mit Windgeräuschen unterstützen sollen, doch kann sie es nicht in Englisch ausdrücken. In „Janine“ singt sie von einem Mädchen, das sich in keiner Bezeichnung wiederfindet. „Warum nennst du mich Janine, wenn ich Thérèse heiße?“ Die deutsche Strophe lässt die Zuschauer auflachen: „Warum nennst du mich Kanzler, wenn ich Angela heiße?“ Die Videoeinspielungen zeigen ein Mädchen, das in drei verschiedenen Stimmungen mit sich selbst zu streiten scheint. Genau wie Camille, die sich jetzt mit Kohlestift einen Faden über ihr weißgeschminktes Gesicht malt.

Das Themenspektrum ist bei ihr mit Melancholie, schlechtem Wetter oder erkalteten Gefühlen noch lange nicht ausgereizt. In „Pâle Septembre“ singt sie von der Zeit, als der Himmel ohne Asche war, und spielt damit auf die Anschläge des 11. September an. „Fühlt ihr euch als Europäer?“, fragt sie das Publikum. Unentschlossen raunt die Menge. Sie mimt sie die Antwort nach und stimmt ihr letztes Lied an: „Putain, c’est vachement bien nous sommes quand tous des européens“ (Verdammt, dass ist echt gut, trotzdem sind wir alle Europäer). Symbolisch oder nicht, schneidet Camille plötzlich den weißen Faden auf der Bühne mit der Schere durch. Das Publikum singt durch die ansteckende Begeisterung der Französin den Refrain mit.

Erst verlässt der Pianist die Bühne, dann singt Camille ihre letzte Strophe, zum Schluss zupft nur noch der Bassist unverzagt weiter den Rhythmus. Schließlich geht auch er, und zurück bleibt der ständige Summton in der Konzerthalle der Arena. Auf dem Album tönt er noch ganze 35 Minuten. Damit ging die Popdeurope in der Arena Treptow ausgesprochen avantgardistisch zu Ende. Ganz nach dem Motto der Sängerin: „Die musikalische Tradition muss auf den Kopf gestellt werden.“ Nur Camille kann so etwas ohne Pathos sagen.