Am Rande des Systemzusammenbruchs

KRISENGEWINNLER Falk Richter und Anouk van Dijks bestechender Tanz- und Theater-Abend „Trust“ an der Berliner Schaubühne

Überdies setzt die konkrete Körperlichkeit einen Kontrapunkt zur Luftikus-Logik der Finanzwelt

VON ANNE PETER

Ein Fall von Krisengewinnlertum, dieser Theaterabend an der Schaubühne. Allerdings in gänzlich positivem Sinne. Zehn Jahre nach ihrer gemeinsamen, zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierung „Nothing hurts“ arbeiten Haus- und Autorregisseur Falk Richter und die niederländische Choreografin Anouk van Dijk wieder zusammen. Und gewinnen der Krise dabei viel ab: „Trust“ ist eine intelligente, ästhetisch bestechende, streckenweise sehr unterhaltsame Stimmen- und Körperperformance, die sich an der Frage abarbeitet, welche Ungeheuerlichkeiten eine Gesellschaft ohne Vertrauen auf zwischenmenschlicher wie wirtschaftspolitischer Ebene gebiert.

Dabei stürzen sie sich auf die Absurditäten der finanzwirtschaftlichen Blasenbildung und schlagen aus ihnen auf der kühlen, mikrofonbestückten Bühne mit Stahlträgeraufbauten eine Menge aberwitzige Funken. In den besten Momenten schraubt sich Richters Text zur beißenden Satire hoch, knüpft Floskelkaskaden oder leistet sich sprachlich so manchen Pollesch-Anflug.

Da wird etwa die These von einer „Vierten Generation“ aufgestellt, laut der die RAF „nach dem langen Gang durch die Institutionen nun in den Führungsetagen der Unternehmen und Finanzhäuser angekommen“ ist und von dort aus „das gehasste System effizient und nachhaltig untergehen lassen wird“. Dies ist nur eine der zwischenapplausverdächtigen Pointen, die der selbstverausgabungsbegabte Stefan Stern in einem furiosen Hineinsteigerungsmonolog an die Rampe schwitzt und dabei von der Mehdorn’schen Baufehlleistung beim Berliner Hauptbahnhof bis zum „leider nicht besonders gut durchdachten Cross Border Leasing-Geschäft“ des SPD-Stadtrats etliche Politskandale jüngster Zeit aufzäumt.

Einer waghalsigen Grundannahme folgend, schließt „Trust“ die Verantwortungslosigkeit von Finanzjongleuren mit den Bindungs- und Verantwortungsängsten heutiger Beziehungsphobiker kurz. Es überzeugt trotzdem, weil die Übertragung betriebswirtschaftlicher Handlungsmuster in zwischenmenschliche Gefilde manchen Aha-Effekt bereithält – was bei Bossen und Bankern anstandslos hingenommen wird, würde im privaten Rahmen sofort zum Eklat führen. „Vertrau mir“, bittet Judith Rosmair ihren stumm entgeisterten Langzeitpartner (Kay Bartholomäus Schulze). Sie will auch nie wieder mit einem ihrer diversen Liebhaber seine Autos zu Schrott fahren, die von ihm geliehenen Milliarden das Klo runterspülen oder aus Versehen in die Müllverbrennungsanlage kippen. Passenderweise wird die Leichtsinnigkeitsvirtuosin bei diesem hanebüchenen Entschuldigungswortschwall von zwei Tänzern als schwebender Luftgeist durch den Raum getragen.

Vielfach verbinden sich Tanz und Schauspiel hier auf derart unmittelbar schlüssige Weise. Neben Rosmair, Schulze und Stern gehören Lea Draeger und Vincent Redetzki dem agil-gliedrigen Schaubühnentrupp an, der mit der selbst auftretenden Anouk van Dijk und den Tänzern Nina Wollny, Peter Cseri und Jack Gallagher zu einem famosen, staunenswert homogenen Ensemble verschmelzen, in dem alle Beteiligten Tanz- und Sprechpassagen einbringen. Überdies setzt die konkrete Körperlichkeit einen Kontrapunkt zur Luftikus-Logik der Finanzwelt, verweist auf die stets realen Auswirkungen der virtuellen Geschäftemachereien und beharrt auf dem menschlichen „drama, das sich dahinter verbirgt“, hinter dem „rauschen dieser zahlenreihen“.

Dafür erdenkt van Dijk, ehemalige Tänzerin bei Amanda Miller und mit der auf Gegenbewegung basierenden Countertechnique arbeitend, Bilder des Haltsuchens und Fallengelassen-Werdens, des Hinschlidderns und Balanceverlierens. Immer wieder rutschen Körper von glatten Schwarzledermöbeln ab, liegen apathisch verrenkt zwischen Pelzmänteln im Wohnschick. Arme schwingen sich erfolglos zu Umarmungen auf. Wut über die Verhältnisse muss erst ertanzt werden, bevor sie aggressiv ins Mikro gebellt werden kann. Unterlegt ist das Ganze von den mal sirrend pochenden, mal wabernden, dann wieder dröhnenden Elektrosounds des Komponisten Malte Beckenbach.

Die zersprengende Kraft der Tänzerarrangements wirkt auf das zuletzt oftmals in oberflächlicher Coolness steckenbleibende Richter-Theater wie der reinste Adrenalinschock. Ausgelotet wird dabei der kollektive Zustand einer Generation von karrieristischen Hyperindividualisten, die außerhalb ihrer von Geld dominierten Arbeitswelt keine Erfahrungen mehr machen. Das wiederholte Credo dieser Indifferenzler, „Lass uns einfach alles so lassen, wie es ist“, wandelt sich gegen Ende in die Parole „Ich will ein anderes Leben“. Zeitgemäßes Theater am Rande des Systemzusammenbruchs, die Schaubühne im Aufwind.