: Es passierte in beiden Systemen
betr.: „Wahlkampf nach Schönbohm“, taz vom 6. 8. 05
In welcher Welt leben Journalisten und Politiker eigentlich, frage ich mich, wenn sie derart abgehobene Töne von sich geben und offenbar gar nicht verstehen wollen? Aufrichtig? Warum ist ein präpotenter Hahn aufrichtig, wenn er andere mit Dreck bewirft? Oder ist es bloß die Solidarität der Hähne, die als Moral einherstolziert? Selbstgerecht, ja, menschenverachtend und -erniedrigend, ja und falsch, ja. Aber aufrichtig? LEO BURG, Berlin
Wenn Herr Bollmann schon die tabulose Diskussion über den Osten fordert, dann sollte man vielleicht darüber reden, wie mit dem Einzug des real existierenden Kapitalismus in der ehemaligen DDR die sozialen Einrichtungen geschleift wurden und die Menschen dem Marktdiktat ausgeliefert wurden. Nicht 40 Jahre Herrschaft der SED, sondern 15 Jahre Kapitalherrschaft haben einige Menschen derart zugerichtet, dass sie sich nicht mehr als soziale Wesen begreifen. Will Herr Bollmann darüber auch reden? PETER NOWAK, Berlin
Genauso wenig wie eine Diskussion über die „Faulheit und Arbeitsscheu der Neger“ irgendeinen sinnvollen Beitrag zur Lösung der Probleme Afrikas darstellen würde, so tragen auch Schönbohms Äußerungen nichts zur Behebung der Krise in Brandenburg bei. Hier lässt ein abgehalfterter General seinen Ressentiments völlig ungehemmt freien Lauf. Ihn dann auch noch zum Helden zu erheben, über den eine neurotische Öffentlichkeit wegen seiner offenen Worte herfällt, ist kaum nachvollziehbar. Welche unangenehme Wahrheit hatte Schönbohm denn zu verkünden? Dass alle Ostdeutschen aufgrund ihrer DDR-Prägung pathologisch gefährlich sind und deswegen auch die beste Politik – nämlich seine – nichts fruchten kann?
Wir haben es bei der deutschen Wiedervereinigung mit einem eklatanten Eliteversagen aufgrund von Überheblichkeit und Ignoranz zu tun. Eine gute deutsche Tradition, die dann früher oder später die Suche nach Sündenböcken verlangt, anstatt die Probleme zu lösen. Da bieten sich die deklassierten Ostdeutschen ja hervorragend an. Wie würde die Berichterstattung über einen Kindsmord in Schwaben aussehen? Käme irgendjemand auf die Idee, die Schwaben in Kollektivhaftung zu nehmen? Diese ganze unsägliche Kindsmord-Diskussion sagt mehr über westdeutsche Neurosen aus als über ostdeutsche Realitäten. MICHAEL KOPSIDIS, Halle an der Saale
betr.: „Schlussstrich?“ von Dirk Knipphals, taz vom 6. 8. 05
Im Moment wissen wir leider noch viel zu wenig über die Umstände des Geschehenen. Also sollten wir insgesamt sehr vorsichtig sein. „Irgendetwas muss aber dran sein“, ist leider auch nicht der richtige Erklärungsansatz, und noch dazu ein sehr problematischer. Diese Fälle gibt es oft genug in der Presse, da wird so viel Dreck geworfen, bis etwas kleben bleibt. Seltsam ist auch, immer wenn ein Verbrechen im Osten geschieht, ist das System schuld. Wer hat danach gefragt, als Kinder in der Kneipe nebenan missbraucht wurden?
Vielmehr Aufmerksamkeit sollte eher auf die konkreten Lebensumstände und die Beziehungsmuster gerichtet sein. Die Beziehungsmuster wurden in der DDR nicht so stark beleuchtet. Vielfach wurde die DDR ja dafür kritisiert, dass sie sich zu sehr eingemischt hat. Jetzt ist offenbar das Gegenteil eingetreten, bei dem alle Seiten als überfordert erscheinen. HOLGER STETEFELD, Berlin
betr.: „Im verwilderten Osten“ von Chr. Semler, taz vom 5. 8. 05
Eine kulturzerstörende Proletarisierungswut hat es in der DDR tatsächlich gegeben, aber eben in einem anderen Sinne als gemeinhin diskutiert. Daher tragen zur Erklärung der aktuellen und auch der allgemeinen Zusammenhänge rein ökonomische Aspekte, wie sie von Herrn Schönbohm wie auch vornehmlich von seinen linken KritikerInnen bemüht werden, nur sehr wenig bei. Herr Semler seinerseits tut allerdings genau das, was er Herrn Schönbohm vorwirft: Er operiert mit platten Stereotypen – teilweise aus der linken Doktrinen-Mottenkiste. Davon abgesehen, dass aus der Schönbohm’schen Formulierung „einer der … Ursachen“ durch Verengung bzw. Verabsolutierung eine Universalzuweisung herbeimissdeutet wird, bezeichnet Herr Semler den de facto untauglichen Erklärungsversuch des brandenburgischen Innenministers nicht nur als „Generalangriff“, sondern – und hier wird es exzessiv – sogar als „Pionieruntat“ und als „bösartig“. Nach bewährter Deutung kann wieder nur so etwas wie die Weltverschwörung am Werk gewesen, also ein langphasig ausbaldowerter Vorsatz feindlich-negativer Kräfte planmäßig und heimtückisch in die Tat umgesetzt worden sein.
Nichts ist so persistent wie Mentalitäten und teilweise auch Charaktere. Die haben sich nach der Wende nicht plötzlich verändert. Und Solidarität ist nicht die zum gegenseitigen privaten Vorteil betriebene „Abzweigung“ volkseigener Zementsäcke, sondern die eigenständig erbrachte Charakterleistung einer autonomen Persönlichkeit. Die aber war im Totalitarismus nicht vorgesehen. Der von Herrn Semler beschworene Zusammenhalt in der DDR war von daher eine eher fragile Angelegenheit. Die materialistische Anthropologie wie auch die Ausrottung von Aufrichtigkeit, freiem Geist und wirklicher Bildung durch das Regime sind eher Spuren, bei deren Verfolgung man zu der einen oder anderen veritablen Erkenntnis gelangt. KARL BOYÉ, Berlin
betr.: „Da war eine Frau in höchster Not“, taz vom 4. 8. 05
Warum wird eigentlich für jedes beunruhigende Phänomen, solange es nur im Osten auftaucht, gesamtdeutsch mit größter Zuverlässigkeit das immer gleiche Erklärungsmuster präsentiert? Der Systemwechsel vom (angeblichen) Kollektivismus zum (angeblichen) Individualismus ist natürlich nicht aufgearbeitet: weder politisch noch ökonomisch oder sozial. Trotzdem bietet er keine hinlängliche Erklärung für eine derart einzigartige Tragödie, wie die Tötung von neun Kindern und das Desinteresse der Menschen in der Umgebung an der Mutter.
All dies passierte übrigens seit 1988 – also in beiden Systemen. Es hätte vermutlich überall und zu jeder Zeit auf der Welt stattfinden können und verdiente in jedem Fall eine individuelle Analyse – und keine Ferndiagnose und Schubladendenken.
MICHAELA PASSLICK, Bonn
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