: Den Schrecken genau erfassen
Der Verein Berliner Mauer und Potsdamer Zeithistoriker wollen endlich eine Forschungslücke schließen: Wie viele Menschen starben an der Berliner Mauer? Neue Quellen ermöglichen dies
VON PHILIPP GESSLER
Da ist die Geschichte von Ernst Mundt, geboren am 2. Dezember 1921 in Bad Polzin. Der Zimmermann kletterte am 4. September 1962 auf die Friedhofsmauer an der Bergstraße. Dort lief er weiter Richtung Bernauer Straße auf die Grenzmauer zu. Wenige Meter vor dieser letzten Hürde vor der Freiheit in Westberlin wurde er von zwei DDR-Grenzsoldaten entdeckt. Der Grenzsoldat Karlheinz M. gab einen Warnschuss ab, aber Mundt lief weiter. Kurz vor der Grenzmauer erwischte er ihn: Mundt erlitt einen Kopfschuss und fiel auf das Gelände des Friedhofs an der Bernauer Straße. Er ist einer der Toten der Berliner Mauer.
Doch wie viele Menschen kamen dort insgesamt ums Leben? Die Staatsanwaltschaft Berlin kommt auf 86 Tote; mindestens 92, meint der Polizeipräsident; 114 hat die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter errechnet; 122 die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV). Auf über 200 kommen schließlich die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ und Alexandra Hildebrandt, Leiterin des Mauermuseums Checkpoint Charlie.
Auch weil die DDR dies immer vertuschte, ist die Zahl der Mauertoten fast 16 Jahre nach Fall des mörderischen „antiimperialistischen Schutzwalls“ noch unbekannt. Dieses Forschungslücke wollen der Verein Berliner Mauer und das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) schließen. Der Verein, der auch das Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße betreibt, und die Potsdamer Zeithistoriker wollen innerhalb von zwei Jahren Licht in dieses geschichtliche Dunkel bringen – etwa auch über die Motive der Flucht Mundts. Der Bund unterstützt sie finanziell.
Wie der Projektleiter Hans-Hermann Hertle erläuterte, sei den nun tätigen Forschern ein „einmaliger Quellenzugang“ möglich, nämlich vor allem die Akten der Berliner Staatsanwaltschaft zu den im vergangenen Jahr beendeten Prozessen gegen die Mauerschützen. Insgesamt 244 Fälle sollen zunächst näher untersucht werden. „Ein Stück weit Grundlagenforschung“ sei nötig zur Frage der Mauertoten, sagte Martin Sabrow, Leiter des ZZF. Es gehe nicht darum, jährlich eine möglichst hohe Opferzahl zu publizieren, betonte er mit einem Seitenhieb auf Hildebrandt und ihre jährliche Pressekonferenz zur Anzahl der Toten. Am Ende des Forschungsprojekts soll ein Buch publiziert werden und eine Internetseite stehen. Dort sollen alle Toten der Berliner Mauer, ihr Leben und der Hintergrund ihres Todes beleuchtet werden. Die Versöhnungsgemeinde will zudem vom 13. August bis zum 9. November in der Versöhnungskirche auf dem früheren Mauerstreifen an der Bernauer Straße wochentags um 12 Uhr für jeden Mauertoten eine Andacht abhalten – die Ehrung der Toten ist ebenfalls ein zentrales Anliegen des Projekts.
Übrigens wurde Karlheinz M., der Todesschütze Mundts, noch am gleichen Tag vom Ostberliner Stadtkommandanten Poppe für seine Tat geehrt: mit einer Medaille für „vorbildlichen Grenzdienst“ und einer Geldprämie.