: Die Zukunft liegt in der Schubkarre
FILM Pfade durch Utopia: Freie Liebe und Gemüseanbau in Europas Kommunen. Die Filmemacher Isabelle Fremeaux und John Jordan dokumentieren gelebte Alternativen, blenden jedoch die Widersprüche aus
VON ANDREAS BECKER
„Mittwochs geschlossen“ stand eines Tages auf einem Zettel an der Tür meiner Kreuzberger Fahrradwerkstatt. Das Kollektiv der Schrauber hatte entschieden, dass sie einmal die Woche in Ruhe ohne Publikumsverkehr Räder reparieren wollten. Auf der Plenumssitzung waren die anderen unterlegen und mussten nun zähneknirschend mitmachen. Obwohl sie es nicht gut fanden und sie eigentlich formal sogar Inhaber des Ladens sind. Aber die Mehrheit hatte gesiegt. So können Konflikte verlaufen, wenn man im Kollektiv den Kapitalismus und seine autoritären Strukturen ausschalten will. Viele haben das schon versucht, und viele sind gescheitert.
Die Filmemacher Isabelle Fremeaux und John Jordan haben jetzt auf einer Reise quer durch Europa versucht, „utopische“ Projekte zu dokumentieren. Und auch sie sind gescheitert. Weil sie sich genau nicht für die Widersprüche interessieren. Und weil ihre Auswahl so wirkt, als seien sie einfach mit dem VW-Bully durch die Gegend gefahren und hätten immer mal gefilmt, wenn es ihnen grade in den Kram passte. Immerhin tolle Bilder von Landstraßen.
So begleiten wir Protestierer, wenn sie nachts die Zäune von Heathrow durchtrennen, um ein Protestcamp gegen den Flughafenausbau zu errichten. Wenn was gesagt wird, dann meist so Hämmer wie: „Jeder Einzelne muss seine Rolle im System untersuchen und sehen: Wie finde ich da raus“. Dabei würde man so gern was über die einzelnen Protestierer erfahren, ihre Motive oder Nöte.
Dann sind wir plötzlich im einstigen Jugoslawien. Arbeiter halten eine völlig schrottige Eisenbahnfabrik besetzt, die privatisiert wurde. Die Fabrik lief 120 Jahre unter „Türken, Österreichern, Königen und dem Kommunismus“. Nur jetzt nicht mehr. Aber Pathos hilft immer: „Je stärker das Leuchten, desto stärker die Gerechtigkeit“, sagt jemand am Lagerfeuer.
Die wahre, gelebte Alternative findet sich dann im Landleben. Wo die Leute so wahnsinnig dankbar sind für die Lebensmittel, die sie selbst angebaut haben. Dieses Zurück zur Natur scheint den Autoren besonders gut zu gefallen.
Für Städter haben sie keine richtige Utopie im Angebot. Ein Typ lebt immerhin im Lkw, was ein kleines Kind gar nicht glauben will. Dann geht’s rüber nach Spanien, wieder wird der utopische Ansatz durch das Wühlen in heimischer Erde verwirklicht. Klar, man hat sich das Land genommen, das einem als Mensch aber ja sowieso gehört. Ein alter Brunnen wurde auch reaktiviert. Eine hübsche junge Frau im knappen Top senst die Wiese. Aber das ist in England, auch hier also: zurück aufs Land.
Sex ohne Eifersucht
Wer selbst mal Schweine und Hühner in einer Land-WG versucht hat zu erziehen (wie ich), der weiß, dass diese Viecher gar nichts von Utopie verstehen. Unsere drei Schweine sind damals immer unter dem Zaun durch ausgebüxt und mussten mit Dachlattenprügel auf den Popo wieder eingefangen werden. Eins lief immer gern Richtung Bahnlinie. Und die Hühner waren so blöd, dass sie einen beim Eiereinsammeln angegriffen haben, bis einem endlich ein Ei runterfiel, das die Hühner dann sofort aufpickten. Wir haben sie dann irgendwann alle geköpft.
Solche Storys von Gescheiterten gibt’s im Film nicht. In Deutschland wird dann auch noch ausgerechnet die ZEGG-Kommune besucht. Die versucht schon seit Jahren, mit dem Gerede von freier Liebe und Sex Leute nach Meck-Pomm zu locken.
In den Neunzigern haben sie für ihre „Sommerseminare“ sogar in Berlin mit Plakaten geworben. Auch hier schauen oder fragen die Filmer nicht wirklich mal nach, was hinter dieser merkwürdigen, sektenartigen Organisation ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung) eigentlich steckt. Sind das durchgeknallte Bhagwanjünger, die ihren Guru vermissen und dessen Rolls-Royce-Flotte? „Wir experimentieren mit der Liebe.“ Und keiner ist eifersüchtig, verrückt! Sex, und danach wieder mit der Schubkarre durch den Garten.
Immerhin machen wir dann noch einen Ausflug ins dänische Christiania, kurz vor der Legalisierung. Die Dänen erzählen schon auch von den Problemen ihrer Kommune, die seit den Siebzigern das riesige Exmilitärgelände in Kopenhagen besetzt hält. Man versucht immer noch, alles im Konsens zu entscheiden, was teilweise wochenlange Diskussionen erfordert. Wie ein Zahnloser erzählt ist es auch hier simpel: Wenn du an der Bar nicht bezahlst, kriegst du kein Bier. „Utopia heißt Nirgendwo“.
Die Werkstatt vom Fahrradladen musste dann komplett schließen und umziehen. Und sie hat jetzt wieder immer geöffnet. Das Plenum hatte neu entschieden.
■ „Pfade durch Utopia“. 109 Minuten. Filmvorführung in Anwesenheit von John Jordan und Isabelle Fremeaux am 31. 8., 19.30 im Sputnik, Hasenheide, läuft auch im Lichtblick Kino