: Der große Schlamassel
ÖKONOMIE Wo bleibt die linksradikale Kapitalismuskritik in der Krise? Lange war nichts zu hören. Jetzt liegen Analysen zum großen Crash von Karl Heinz Roth und Stefan Frank vor
VON FELIX BAUM
Ist der Neoliberalismus in der Krise oder ist die kapitalistischen Produktionsweise in der Krise? Das ist die Frage, an der sich derzeit die linken Geister scheiden. Und diese Frage ist keine akademische.
Für jene, die den Neoliberalismus in der Krise sehen, müsste lediglich die Politik der letzten drei Dekaden korrigiert werden, um den Kapitalismus zugleich sozialer und krisenfester zu machen. Die von den Gewerkschaften geforderte „Stärkung der Massenkaufkraft“ könnte das Absatzproblem beheben und die staatliche Regulierung der Finanzmärkte dafür sorgen, dass sich ein Crash wie der vom Herbst 2008 nicht wiederholt.
Diese Harmonie zwischen dem staatlichen Interesse an wirtschaftlicher Stabilität und den Interessen der Lohnabhängigen erwiese sich hingegen als illusionär, sollte das Zweite – die Krise der kapitalistischen Produktionsweise – zutreffen. Dann wäre die derzeitige Krise nicht aus kurzsichtiger Politik entstanden, sondern aus der unheilbaren Tendenz des Kapitals zur Überakkumulation, deren Überwindung nur zulasten der Arbeiterklasse erfolgen kann.
Kopfschütteln über skurrile Derivate
Der Politikwissenschaftler und Publizist Stefan Frank stimmt in seinem Buch „Die Weltvernichtungsmaschine“ zwar nicht die gängige Neoliberalismuskritik an, die in der ungerechten Einkommensverteilung den vorrangigen Grund der Krise ausmacht, treibt jedoch die Vorstellung, falsche Politik habe den großen Schlamassel verursacht, geradezu auf die Spitze.
Allen voran Alan Greenspan soll es gewesen sein, der mit ständigen Zinssenkungen die Kreditexpansion und damit die Immobilienblase begünstigt habe, deren Platzen die jüngste Weltwirtschaftskrise eröffnete. Stefan Franks Darstellung dient sich dem „gesunden Menschenverstand“ an, der über die „moderne Finanzalchemie“ und ihre immer skurrileren Derivate nur den Kopf schütteln kann. Was die Ausdehnung der Finanzgeschäfte mit den Schranken des produktiven Kapitals zu tun haben könnte, wird gar nicht erst gefragt. Selbst die offenkundige Überakkumulation in der globalen Automobilindustrie findet keine Erwähnung.
So bietet das Buch bei aller Sachkundigkeit des Autors, der sich damit brüstet, bereits 2002 über den sich ankündigenden Banken- und Immobiliencrash geschrieben zu haben, keinen Erkenntnisgewinn, der über die vertrackten Mechanismen der Finanzwelt hinausgeht.
Im Gegenteil, beständig driftet der Autor in populistische Seichtigkeiten ab, die bei einem Autor der Zeitschrift Konkret dann doch überraschen: „Politikern und Bankern Glauben zu schenken ist nie richtig. Sie sind nicht unsere Freunde, sondern wollen bloß Geld.“
Von solcher Oberflächlichkeit hält sich die Krisenanalyse des Sozialforschers Karl Heinz Roth fern. Bereits auf den ersten Seiten seines Buchs „Die globale Krise“ macht er deutlich, dass es sich um weit mehr als eine reine Finanzkrise handelt, die durch eine weitsichtige Politik hätte vermieden werden können.
Kulminationspunkt einer lang schleichenden Krise
Statt einer Nahaufnahme der Finanzwelt bemüht sich Roth, ein umfassendes Bild der Weltökonomie der vergangenen Dekaden zu liefern. Den plötzlichen Crash des vergangenen Herbstes lässt er darin nicht als Blitz aus heiterem Himmel erscheinen, sondern als Kulminationspunkt einer lang schleichenden Krise seit den 1970er-Jahren.
Der Preis für diesen ausladenden Überblick besteht allerdings in vielen langen Passagen, die weitgehend Bekanntes zusammentragen und noch einmal die Sozialbewegungen der 1960er-Jahre, die in ihrer Folge eingeleiteten Veränderungen der Arbeitsverhältnisse, die Globalisierung und manches mehr Revue passieren lassen.
Spätestens bei der eingehend geschilderten Umweltkrise stellen sich eine gewisse Ermüdung ein und vor allem die Frage, was dies alles zum Verständnis der jüngsten Krise beitragen soll.
Erstaunlicher sind allerdings die politischen Schlussfolgerungen, die eher zwischen den Zeilen herausgelesen werden müssen, von Roth aber bereits zu Beginn der Krise in einem viel diskutierten Text gezogen wurden, den die Zeitschrift wildcat auf ihrer Website veröffentlichte (www.wildcat-www.de). Denn Roth, seit mehr als vierzig Jahren im sozialrevolutionär orientierten Teil der Linken aktiv – zunächst im SDS, in den 1970er-Jahren bei der Zeitschrift Autonomie und bis heute im Vorstand der „Stiftung für Sozialgeschichte“ – scheint neuerdings die Hoffnung zu hegen, staatliches Krisenmanagement und Sozialreform zugunsten der Lohnabhängigen ließen sich unter einen Hut bringen.
Deutlich wird dies vor allem im interessantesten Teil seines aktuellen Buchs, der in dem abschließenden Vergleich der Krisen von 1857–59, 1873–79, 1929 ff. und heute besteht. Demnach war es nicht die von jeder Krise ins Werk gesetzte Kapitalvernichtung, sondern ein von den Unterklassen ausgehender „Reformdruck, der entscheidend zur Überwindung der Depressionen beitrug“.
Insbesondere Franklin D. Roosevelts New Deal stellt sich in dieser Optik als mehr oder minder glückliche Ehe zwischen kluger Staatspolitik und sozialen Kämpfen dar und avanciert stillschweigend zum Vorbild für die Gegenwart. Durch Roths Ausführungen schimmert immer wieder die linkskeynesianische Annahme durch, eine Steigerung der Masseneinkommen könne die Krise überwinden. So sind deshalb für Roth auch die gegenwärtigen staatlichen Konjunkturprogramme ein Anknüpfungspunkt für weitergehende soziale Reformen.
Wem das nicht genügt und wer lieber gern die Erklärungskraft einer streng an Marx orientierten Krisenanalyse prüfen möchte, muss derzeit vom Buchmarkt ins Reich der grauen Literatur ausweichen.
Orthodox als Symptom abgeleitet
In einer unscheinbaren Broschüre hat Rainer Roth, pensionierter Professor der Fachhochschule Frankfurt am Main, gewissermaßen die Antithesen zu Stefan Frank und Karl Heinz Roth formuliert.
Die Aufblähung der Finanzsphäre wird orthodox als Symptom der Verwertungsschwierigkeiten des industriellen Kapitals abgeleitet, deren Überwindung keineswegs eine neue Ära der Sozialreform, sondern erbitterten Klassenkampf von oben auf die Tagesordnung setzt.
Wer den jüngsten Crash begreifen möchte und auf Illusionen verzichten kann, sollte dieses schmale Büchlein lesen, das nicht nur das bei Weitem erhellendste, sondern – in Krisenzeiten nicht zu unterschätzen – auch das günstigste ist.
■ Karl Heinz Roth: „Die globale Krise“. Band 1 des Projekts „Globale Krise – Globale Proletarisieung – Gegenperspektiven“. VSA, Hamburg 2009, 336 S., 22,80 Euro
■ Stefan Frank: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“. Conte, Saarbrücken 2009, 197 S., 13,90 Euro
■ Rainer Roth: „Finanz- und Wirtschaftskrise: Sie kriegen den Karren nicht flott“. 126 S., zu beziehen über www.klartext-info.de
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