: Im spirituellen Prekariat
PHILOSOPHIE Charles Taylor sucht in „Ein säkulares Zeitalter“ religiöse Dimensionen
VON ISOLDE CHARIM
Das neue Buch von Charles Taylor ist in jeder Hinsicht groß: Groß ist der Umfang (1.284 Seiten), groß ist der Anspruch (das gesamte „säkulare Zeitalter“ erfassen), und groß ist das Ergebnis. Der kanadische Philosoph erzählt eine eigene Geschichte der Säkularisierung, und dies absolut parteiisch. Wie die Marxisten, die der Meinung waren, keine Wissenschaft könne vom Klassenstandpunkt ihres Autors abstrahieren, so bekennt sich auch Taylor zu seiner eigenen Perspektive auf den Gegenstand: Es ist die eines Gläubigen.
Taylors Darstellung setzt damit ein, nach den heutigen Bedingungen des Glaubens zu fragen. Diese sind es, die sich verändert haben. Der Glaube sei heute nur mehr eine Option, eine fragile und umkämpfte. Der Pluralismus habe Eingang in die Art des Glaubens gefunden: Direkt, naiv kann heute nicht mehr geglaubt werden, nur noch zweifelnd, reflektiert, erkämpft. Damit durchzieht von Anfang an ein unaufdringlicher Heroismus das Buch – jener des Gläubigen in einer säkularen Welt. Wobei Taylor Glaube sehr weitläufig definiert: Er sei ein „Gefühl der Fülle“, ein „Ort, an dem das Leben voller, reicher, tiefer, lohnender“ ist. Und er sei eine „Transformationsperspektive“, das Bedürfnis, die engen Grenzen des vorgegebenen Lebens, der immanenten Erfüllung zu überschreiten.
Nun hat sich der gesellschaftliche Ort des Glaubens im Laufe der Geschichte mehrfach verschoben. Ausgehend von der Theorie Émile Durkheims eines gesellschaftliche Orts des Sakralen, unterscheidet Taylor eine Paläo-, eine Neo- und eine Post-Durkheimsche Periode. Erstere ist jene des Ancien Régimes, einer von Gott gebilligten hierarchischen Ordnung. Mit der Moderne beginne die „Neo-Durkheimsche“ Periode, in der die Gläubigen mobilisiert werden müssen, da die Religionszugehörigkeit nunmehr freiwillig ist. Gleichzeitig sind hier aber Glaube und politische Identität eng verwoben, wie etwa im Nationalismus. Die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts markieren einen deutlichen Bruch mit diesem System und den Beginn dessen, was Taylor das „Zeitalter der Authentizität“ nennt.
Einsame Massen
Dieses beginnt mit jenem Ausbruch aus dem Kerker der Disziplin hin zur dionysischen Ekstase, für die Namen wie George Bataille stehen. Und es führt zur „expressivistischen Revolte“ der Jugendkultur mit ihrer Suche nach authentischen Lebens- und Ausdrucksformen. Als Massenphänomen prägt dies den Kulturkapitalismus, in dem Waren dazu dienen, eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.
Das Erstaunliche ist, dass Taylor dies keineswegs als platten Hedonismus abkanzelt. Statt moralisch zu verurteilen, sucht er nach der religiösen Dimension. Für ihn setzt sich der Weg, den die Revolten der 1960er-Jahre eröffnet haben, in jenen Erfahrungen fort, die zugleich massenkulturell und individualistisch sind: die Suche nach einem eigenen Stil, einem eigenen Ausdruck, die er als neue Form der Spiritualität versteht und als Post-Durkheimsch bezeichnet. Unsere heutige Verbindung zum Sakralen kenne keine Einbettung mehr in einen kirchlichen oder staatlichen Rahmen. Spiritualität stehe nicht mehr in einer inneren Verbindung zur Gesellschaft. Der Zugang zur religiösen Praxis laufe heute über die verschiedenen Formen spiritueller Lebenspraxis. Da folgt jeder seinem eigenen Weg. So wie jeder seinen eigenen Stil sucht.
Dennoch sei die Post-Durkheimsche Epoche keine einer trivialen, privatisierten Spiritualität. Diese habe sich zwar von der politischen Gesellschaft gelöst, bleibe aber eine kollektive Erfahrung. Die Suche nach einem Gefühl der Fülle jenseits der Immanenz sowie nach einer Perspektive für die eigene Transformation führe zu neuen kollektiven Orten: außeralltäglichen Massenveranstaltungen – durchaus auch an metatopischen Orten wie dem Fernsehen oder dem Internet, wie etwa dem Begräbnis der Prinzessin Diana, wo Millionen individueller Monaden in einem „Augenblick der Verschmelzung“ miteinander trauern. Wie groß dabei die Ergriffenheit und wie groß die Sensationslust gewesen sind, sei dahingestellt. Taylor sieht die Bildung solcher „einsamen Massen“ auch bei Raves und Rockkonzerten. Dies alles sind für ihn Formen religiösen Glaubens, die die Alltäglichkeit einer säkularen, entzauberten Welt transzendieren.
Sexualität unter Druck
Natürlich ist diese Post-Durkheimsche Form des „Glaubens ohne Zugehörigkeit“ äußerst fragil, denn in einer säkularen Welt ist Spiritualität ohne Religion sehr heikel. Ohne feste Verbindlichkeiten leben wir in einem spirituellen Prekariat. Umso mehr, als unsere Epoche keine reine Form der Religiosität kennt, sondern ein Spannungsverhältnis zwischen Neo- und Post-Durkheimschen Interpretationen, zwischen einer Religion, die der Autorität eine Vorrangstellung einräumt, und einer Religion der individuellen Suche.
Unsere ganze Kultur sei, so Taylor, von der Erfahrung eines „gegenläufigen Drucks“ gekennzeichnet, eingezwängt zwischen den Extrempositionen einer orthodoxen Religiosität und eines materialistischen Atheismus. Nirgendwo sei dieser Druck so spürbar wie im Bereich der Sexualität. Obwohl Taylor gerade die „Exkarnation“ der christlichen Religionen, die Ablösung der Spiritualität von allen physischen Ritualen kritisiert und den dionysischen Ausbruch weiterführen will, sieht er den heutigen Menschen vor einem unlösbaren Widerspruch: der „Unmöglichkeit, das Dionysische mit einer kontinuierlichen Lebensweise in Einklang zu bringen; die Schwierigkeit, das Sinnliche in einer fortwährenden Beziehung zu halten“. Man mag diese Erfahrungen der Fülle spirituell nennen oder nicht. So definiert sind sie auch für jeden Atheisten nachvollziehbar. Was kann man mehr von einem religiösen Buch über Säkularisierung erwarten?
■ Charles Taylor: „Ein säkulares Zeitalter“. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 1.284 S., 68 Euro