: Prüfungen des Geistes
INTERNAT Zwischen Schuld und Erlösung, Demut und Aufbegehren: Christoph Peters’ virtuoser Roman „Wir in Kahlenbeck“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Wer einen Internatsroman schreibt, weiß, dass er sich darauf einlässt, in eine lange Tradition eingeordnet zu werden, von Musils „Törleß“ oder Hesses „Unterm Rad“ bis hin zu Joseph Zoderers „Das Glück beim Händewaschen“. Christoph Peters ist ein erfahrener und hoch reflektierter Autor. 1966 in Kalkar am Niederrhein geboren, besuchte er zehn Jahre lang bis zum Abitur das Internatsgymnasium Collegium Augustinianum Gaesdonck. Auch die Schriftsteller Paul Ingendaay und Gregor Hens sind dort zur Schule gegangen.
Mauern der Klosterschule
Kahlenbeck, der Schauplatz von Christoph Peters’ neuem Roman, ist unverkennbar mit Gaesdonck identisch. Und selbstverständlich gibt es sie hier auch, die Enge des Internatsregelwerkes, die Zwänge der äußeren Umstände. Carl Pacher heißt die Hauptfigur, ist zu Beginn des Romans 14 Jahre alt. An diversen zeitgeschichtlichen Hinweisen (das Attentat auf Papst Johannes Paul II. beispielsweise) ist erkennbar, dass wir uns in den frühen 80er Jahren befinden. Genauso gut wäre aber auch denkbar, dass der Roman im Jahr 1950 spielen könnte, denn die gesellschaftlichen und religiösen Diskurse, die sich mit der pubertären Gestimmtheit des Protagonisten verbinden, sind nahezu zeitlos.
Das Bemerkenswerte an diesem ganz und gar beeindruckenden, virtuosen Buch ist der Umstand, dass Peters nicht den Katholizismus und die Gepflogenheiten der Internatsschule als Unterdrückungsapparat stilisiert. „Wir in Kalhlenbeck“ ist weitaus subtiler: Das Gefängnis sind nicht die Mauern der Klosterschule; das Gefängnis ist der eigene Körper selbst, mitsamt all seinen Begierden, Wünschen, Versuchungen und Unzulänglichkeiten. Das ist der Grund, warum der Roman sich zwar mitreißend lesen lässt, aber eben nicht als eine vom Katholizismus behinderte Coming-of-Age-Geschichte. Es ist keine Anklage, sondern ein Dialog.
Die pubertären Leiden und Zweifel Carls spiegelt Peters nicht deshalb in der tiefen Religiosität seiner Figuren, um sie symbolisch zu überhöhen; es geht vielmehr darum, wie beides, Leben und Glauben, innerhalb und außerhalb der Schulmauern miteinander vereinbar sind. Denn das Leben da draußen ist eine permanente Prüfung des Geistes durch das sündige Fleisch. Verstohlen werden die Küchengehilfinnen im Speisesaal begehrlich angeschaut. Zugleich werden auf den Stuben knallharte philosophische Gespräche geführt und es gibt auch inquisitionsähnliche Befragungen durch die älteren Schüler.
Kahlenbeck erscheint im Roman als eine Enklave der religiösen Restauration. Die Evolutionstheorie wird abgelehnt; die Schüler werden abgeschottet vom Fernsehen und selbst von den Eltern, um nicht von der aufkeimenden Lotterhaftigkeit angesteckt zu werden. In einer grandiosen Szene gegen Ende schlägt eine adelige Gönnerin des Internats mit Eleganz und Perfidie einen Bogen von Goethe über Darwin bis hin zu Hitler und den Konzentrationslagern. Da ist Carl, der in seinem Aquarium Fische aufzieht, Biologe werden will und die Umweltverschmutzung als ein Frevel gegen das Werk Gottes betrachtet, beinahe schon ein Revolutionär.
Seine Liebe verteidigen
Jeder Einzelne in Kahlenbeck ist ein in sich und mit sich arbeitendes System aus Schuld und Erlösungsgedanken. Im Fall von Carl wird dieser Mechanismus bis zur Unerträglichkeit gesteigert, als jenes Mädchen, Ulla, das er immer von weitem sehnsüchtig betrachtet hat, tatsächlich zu seiner Freundin wird. Carl muss (auch vor sich selbst) seine vermeintliche Liebe zu Ulla in den abendlichen Gesprächen mit den älteren, rhetorisch ausgebildeten Mitschülern Kuffel und Holzkamp gegen den Vorwurf der reinen Wollust verteidigen.
„Der steile Pfad“, „Die böse Begierde“ und „Im Schatten des Kreuzes“ – so heißen die drei Großkapitel des Romans. Dass er einem – trotz seiner 500 Seiten, trotz seiner zumeist in Dialogform gehaltenen theologischen Erörterungen – keinesfalls zu lang vorkommt, liegt schlicht daran, dass Christoph Peters ein großartiger Erzähler ist, der Szenen entwerfen, vor allem aber Stimmungen und Atmosphäre erzeugen kann. Einer der vielen Glanzpunkte ist die Schilderung der Sommerfreizeit in der zum Internat gehörenden Berghütte unterhalb des Matterhorns, beinahe schon eine abgeschlossene Novelle innerhalb des Romans.
Glaube und Weltlichkeit, Erotik, Liebe und Entsagung, Askese und Lust, Einsamkeit und gemeinschaftliche Erfahrung, Demut und Aufbegehren, Fegefeuer und Gnade: Von diesen inneren Widersprüchen ist „Wir in Kahlenbeck“ durchdrungen. Diese großen Motive sind in das Erzählmaterial eingearbeitet, stringent verknüpft und werden mit Ernsthaftigkeit, aber ohne falsches Pathos in den Figuren durchgeführt. Es ist die Mischung aus Intellektualität und Glaubensbejahung, die Peters’ Roman so herausragend erscheinen lässt.
■ Christoph Peters: „Wir in Kahlenbeck“. Luchterhand, München 2012, 512 S., 22,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen