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Archiv-Artikel

„Es geht nur noch darum, breit zu sein“

Die Glorifizierung von Heroin ist Vergangenheit, doch ohne Drogen kommt kein junger Mensch aus, der auf der Straße lebt, sagt Stefan Thomas, Psychologe an der FU Berlin. Er hat die Szene am Bahnhof Zoo ein Jahr lang beobachtet

taz: Herr Thomas, welche Klischees von den „Kindern am Bahnhof Zoo“ stimmen nicht mehr?

Stefan Thomas: Es sind in der Regel keine Kinder mehr, sondern Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren. Nur ganz vereinzelt gibt es 14-Jährige. Sie werden meistens schnell von Sozialarbeitern aufgefangen. Auch die Jugendkultur mit entsprechender Musikszene und die Glorifizierung von Heroin sind weg.

Wie hat sich der Drogenkonsum bei den Jugendlichen auf der Straße seit den 70er-Jahren verändert?

Fast alle trinken Alkohol oder kiffen, etwa 40 Prozent nehmen auch harte Drogen. Anders als in den 70er-Jahren geht es nicht mehr um reines Heroin, sondern um eine so genannte polytoxomane Mischung aus verschiedenen Drogen. Es geht nur noch darum, breit zu sein und den Alltag zu vergessen.

Ist das Leben auf den Straßen am Zoo ein Lebensgefühl oder vielmehr eine Notlage?

Das ist ein ambivalentes Verhältnis – gerade beim Bahnhof Zoo. Die Freiheit von Zwängen und die Ersatzfamilie sind wichtig. Diese Gruppe von rund 300 Menschen mitten in Berlin ist ein Bezugspunkt. Auf der anderen Seite gibt es Aussichtslosigkeit und fehlenden Halt. Die jungen Menschen denken nicht jeden Tag über Gewalt und Missbrauch im Elternhaus nach. Viel präsenter sind Langeweile und Geldnot.

Wie lange bleiben die Jugendlichen am Bahnhof Zoo?

Es gibt „Touristen“, die nur ein paar Wochen oder auch ein halbes Jahr dabei sind, weil sie es cool finden; die aber nach den Ferien wieder nach Hause fahren. Manche gehen auch schon nach wenigen Tagen wieder. Etwa 20 bis 30 Prozent gehören zum harten Kern; sie bleiben über Jahre dort. Mit 25 Jahren ist in der Regel Schluss.

Was passiert dann?

Entweder gelingt der Ausstieg oder man verwahrlost und sucht nur noch nach dem nächsten Bier. Den Bezug zur Jugendkultur verliert man mit Mitte 20.

Wie lebt es sich auf Dauer auf der Straße?

Das ist sehr hart. Es gibt viele Todesfälle, durch eine Überdosis Heroin und auch durch Suizide. Die sind oft ein Hilferuf. Ich habe das zum Beispiel erlebt, als ein Mädchen vergewaltigt worden war, was sie an den Missbrauch im Elternhaus erinnert hat. In so einer Situation weiß man oft nicht mehr weiter und hofft auf den großen Knall, der endlich alles beendet.

INTERVIEW: RAFAEL BINKOWSKI