: Geld ist wieder genug da
Börse und Gewinne boomen, Wachstum und Jobs stagnieren. Die gespaltene Wirtschaft ist Ergebnis der Globalisierung
VON HANNES KOCH
Die deutsche Wirtschaft verhält sich wie eine schizophrene Persönlichkeit: hier himmelhoch jauchzend, dort zu Tode betrübt. Die Börsenkurse erreichen wieder Werte, die an den großen Boom erinnern. Der Deutsche Aktienindex (Dax) der 30 größten Firmen hat die höchste Marke seit Mai 2002 erklommen und wird in den kommenden Tagen oder Wochen wohl die 5.000-Punkte-Grenze überspringen. Vielen Unternehmen geht es prächtig, die Gewinne fließen.
Und was macht die Wirtschaft der normalen Menschen, der Beschäftigten, Verbraucher, Arbeitslosen? Ein Trend zum Besseren ist da kaum zu spüren. Weil das Wachstum des Bruttoinlandprodukts sich in engen Grenzen hält (2. Quartal 2005: 0,0 Prozent), stellen die Unternehmen kaum jemanden ein, die Löhne stagnieren, aus Angst vor der Zukunft kaufen viele Menschen nur das Nötigste. Freude am Finanzmarkt – Trübsinn in der Markthalle – ein Paradox?
Keineswegs, eher die beiden Seiten einer janusköpfigen Ökonomie. Eine gute Kapitalkonjunktur geht einher mit einer schlechten Arbeitskonjunktur. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hat unlängst die „teilweise faszinierende Gewinnsituation“ in der Welt der großen Wirtschaft gelobt. In der Tat: Der Versicherungskonzern Allianz AG konnte seinen Nettogewinn im 2. Quartal 2005 um fast zwei Drittel auf 1,4 Milliarden Euro steigern. Die jahrelang leidende Lufthansa verbucht einen erstaunlichen Überschuss, und das Chemie- und Pharmaunternehmen Bayer AG will seinen Vorjahresgewinn von 2,1 Milliarden Euro in 2005 um 40 Prozent übertreffen. Dieses sind nur einige Beispiele eines breiten Trends.
Vornehmlich große Kapitalinvestoren wie Fonds und Banken schätzen die guten Gewinnaussichten der Dax-Unternehmen, kaufen Aktien und treiben damit die Kurse in die Höhe. Zudem fällt es den Investoren leicht, viel Geld auszugeben: Sie haben genug davon. „Reichliche Liquiditätsausstattung“, nennt das Holger Bahr, Abteilungsleiter Volkswirtschaft der Sparkassen-Investmentgruppe Deka. Die historisch betrachtet niedrigen Zinsen, die etwa die Europäische Zentralbank verlangt, haben billige Kredite und ein beschleunigtes Anwachsen der Geldmenge ermöglicht. „Und irgendwo muss das Geld ja hin“, so Holger Bahr.
Also hinein in die Aktien. Investitionen in Firmen scheinen zur Zeit äußerst lohnend. Mit 5,1 Prozent Wachstum legte die Weltwirtschaft 2004 den größten Sprung seit 20 Jahren hin. 2005 soll wieder ein ungewöhnlich profitables Jahr werden.
Die in Deutschland ansässigen Unternehmen stehen zudem besonders gut da. In den vergangenen fünf Jahren sind ihre Lohnstückkosten – der Lohnanteil an einem produzierten Handy, Auto oder Industrieroboter – relativ zur Eurozone um 10 Prozent gesunken. Siemens hat die Arbeitszeit verlängert – ohne Lohnausgleich. DaimlerChrysler ebenso. Die Gewerkschaften können oder wollen nicht gegenhalten. Positiv bemerkbar im Sinne der Unternehmen machen sich auch einige Reformen der rot-grünen Regierung, wie etwa die Reduzierung der Lohnnebenkosten durch die privatisierte Riesterrente. „Das wird genau registriert und in künftige Ertragssteigerungen umgerechnet“, erklärt Commerzbank-Volkswirt Eckart Tuchtfeld. Weil andererseits deutsche Aktien im internationalen Vergleich noch recht billig sind, sehen vor allem ausländische Investoren nun ihre Chance zum Wiedereinstieg. Die Aussichten auf einen möglichen Regierungswechsel am 18. September und eine weitere Deregulierung des Arbeitsrechtes beflügeln die Käufer zusätzlich. Seit dem 22. Mai, als SPD-Chef Müntefering Neuwahlen ankündigte, ist der Dax um über 600 Punkte gestiegen.
Warum aber partizipieren die Beschäftigten und Verbraucher bislang nicht von der wirtschaftlichen Dynamik, wie es in früheren Boomphasen der Fall war? Richard Freeman, Ökonom der Harvard-Universität, nennt einen wichtigen Grund: Hunderte von Millionen chinesischer und indischer Arbeiter würden seit einigen Jahren für den Weltmarkt produzieren und damit die Löhne im globalen Maßstab unter Druck setzen.
Stephen Roach, Volkswirt bei der US-Investmentbank Morgan Stanley, hat berechnet, dass der Lohnanstieg in den Vereinigten Staaten im gegenwärtigen Aufschwung um ein Drittel geringer war als in den fünf zurückliegenden Erholungsphasen. Vergleichsweise niedrige Löhne aber können gleich mehrere Auswirkungen haben: eine schwache Nachfrage der Verbraucher und Erwerbslosigkeit einerseits, steigende Gewinne und Aktienkurse andererseits.
Ganz ausgeschlossen ist es freilich nicht, dass aus der schizophrenen Ökonomie bald wieder eine homogenere Entwicklung entsteht. Schließlich merken auch die Beschäftigten in den erfolgreichen Unternehmen irgendwann, was da passiert. Sie werden ihre Chefs fragen, wie es mit einer Lohnerhöhung steht.