Selten nur Glück

Das Buch der Bücher, das keines ist: eine Rezension jener Schrift, die heilig genannt wird und als „Bibel“ bekannt ist – neu gelesen mit dem alleinigen Vorsatz, nicht gelangweilt zu werden

VON MICHAEL RUTSCHKY

Ich lese die Bibel. Richtig durch, von links oben bis rechts unten; ich lese sie wie ein normales Buch. Das gelingt nur mühsam, denn das Buch der Bücher ist keines, sondern eine Sammlung heterogener Schriften, die irgendwann zusammengefügt und in diesem Mix für endgültig erklärt wurden. (Dazu existiert eine ganze Wissenschaft, deren Scharfsinn sofort Bewunderung erregt, wenn man auch nur im Kleinsten mit ihr in Berührung gerät.)

Dass dies Buch der Bücher gewissermaßen in einem Stück von Gottvater offenbart worden sein soll, kann kein Leser glauben, der sich darein vertieft. (Die Bibelwissenschaft belehrt uns darüber, dass Gottvater größtenteils Altgriechisch gesprochen haben müsste.)

Die Kirchen, bemerkte Meisterdenker Luhmann, sind auf dem Schweigen Gottes aufgebaut. Liest man die Bibel, kann man ebenso sagen: auf seinem höchst verworrenen Reden. Ich verwende eine archaische Technik, das Bibelstechen: der fromme, aber ratlose Leser piekt mit einer Nadel in das geschlossene Buch und öffnet es an dieser Stelle. „Der Bel ist gebeugt, der Nebo ist gefallen, ihre Götzen sind den Tieren und dem Vieh zuteil geworden, daß sie sich müde tragen an eurer Last.“ (Jesaja 46; 1)

Ja, was will uns der Autor sagen? Generationen frommer Leser haben sich mit dieser Frage gequält, und die Auskunft, dass Bel und Nebo fremde Götter/Götzen sind, hilft wenig.

Wer – wie ich – als Jugendlicher den traditionellen Religions- und den evangelischen Konfirmandenunterricht durchlaufen hat, meint die Bibel im Großen und Ganzen zu kennen. Viele Geschichten, die dort im Unterricht – und im obligatorischen Kindergottesdienst – erzählt werden, prägen sich unmittelbar ein, die Schöpfung, die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, Abraham und Isaak. In der Imagination lagern sie sich neben Troja ab und den Irrfahrten des Odysseus; dort verträgt sich sogar der eine Gottvater irgendwie mit dem vielköpfigen und intriganten griechischen Götterhimmel. Beim Lesen der Bibel selbst jetzt hatte ich aber immer wieder Schwierigkeiten, die großen Geschichten überhaupt wiederzufinden, von denen ich so sicher war, dass ich sie kenne.

Das Buch Hiob beispielsweise, in dem der fromme Mann aufgrund einer tückischen Wette zwischen Gottvater und dem Satan einer Folge grässlicher Demütigungen unterworfen wird, löst sich bei näherem Zusehen in eine Reihe lyrischer Monologe über die Größe und Herrlichkeit Gottes auf, in der man gar keine Handlungsstruktur mehr erkennt. Als Gott die Prüfungen Hiobs für abgeschlossen erklärt, liest sich das so: „Mein Zorn ist ergrimmt über dich (Eliphas von Theman) und deine zwei Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob. So nehmet denn sieben Farren und sieben Widder und gehet hin zu meinem Knecht Hiob und opfert Brandopfer für euch und lasset meinen Knecht Hiob für euch bitten“ (Hiob 42; 7, 8)

Eliphas von Theman, Bildad von Suah und Zophar von Naema hatten sich durch primushafte Auslegungen von Hiobs Qualen hervorzutun gesucht – sag ich jetzt mal der Deutlichkeit halber. Wer sich in Eliphas’ Reden vertieft, kann nur schwer erkennen, wieso er Gottvater beleidigt habe und jetzt Brandopfer bringen muss, um ihn zu versöhnen.

Mit dem Herrn Zebaoth ist nicht gut Kirschen essen, erinnerte sich mein alter Freund Scheel, als ich von meiner Bibellektüre erzählte. Die Hiobsgeschichte verrät das Grundmuster des Buches der Bücher, das keines ist. Es geht um Gehorsam, um Unterwerfung. Hiob verhält sich vorbildlich als Gottes Knecht, insofern er alle Qualen, die ihm zugemessen werden, akzeptiert, ohne an der Weisheit von Gottes Beschlüssen zu zweifeln oder gar zu rebellieren. Sogar ihre Unverständlichkeit ist sakrosankt. Hiob, stets um Gehorsam bemüht, kann seine Pein ja auf keinerlei Abweichung, gar Auflehnung zurückführen, mit der er sie verdient hätte.

Dies ist bekanntlich das allererste der zehn Gebote, die Gott seinem Volk auferlegt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (2. Mose 20; 2,3) Davon handeln im Wesentlichen alle folgenden Geschichten, Sprüche, Lieder, aus denen das Buch der Bücher, das keines ist, sich zusammensetzt: Die Kinder Israels fallen ab von Gott und huldigen anderen Göttern, und dafür bestraft er sie auf der Stelle oder zeitverzögert auf das Schwerste. Der Herr Zebaoth – bewunderungswürdig hat die Bibelwissenschaft ihren Scharfsinn auf diese Namen verwandt, ja in manchen meinte sie die Namen anderer Götter zu erkennen, die bei der Redaktion stehen geblieben waren –, der Herr Zebaoth liebt es, Einzelne sowie ganze Völkerschaften zu würgen und zu vertilgen. Auch Gottesknechte wie die Könige David und Salomo oder der zitierte Hiob können furchtbare Strafen auf sich ziehen, wenn ihnen unmittelbar oder auch entfernt, durch Verknüpfung mit Anverwandten, Kindern, Kebsweibern Ungehorsam vorgeworfen werden kann.

Unterwerfung fordern die einzelnen Gebote des Herrn – die Bücher Mose enthalten ja nicht nur die vertrauten zehn, sondern eine Unzahl sehr detaillierter anderer. So etwa: „Wenn zwei Männer miteinander hadern und des einen Weib läuft zu, dass sie ihren Mann errette von der Hand dessen, der ihn schlägt, und streckt ihre Hand aus und ergreift ihn bei seiner Scham, so sollst du ihr die Hand abhauen und dein Auge soll sie nicht verschonen.“ (5. Mose 25; 11, 12)

Auch alle fünf Bücher Mose?, fragte verblüfft mein Freund M., der einst sein Theologiestudium abgebrochen hat. Zwar sind die Gebote, die Gottvater in größter Zahl und Detailgenauigkeit erlässt, oft genug unverständlich, zugleich aber entsteht aus diesen ununterbrochenen Kommandos eine Art Musik, der man nicht ungern zuhört (ich zitiere die Lutherbibel in der Ausgabe der Privilegierten Württembergischen Bibelanstalt, Stuttgart o.J.).

Dass Gott seine Gebote in zwanghafter Genauigkeit erlässt, ist nicht das Entscheidende. Sondern die Gehorsamsforderung selber, die ja eine totalisierende ist: Alles, was Gott gebietet, fordert Unterwerfung – einfach, weil Gott es befohlen hat. Gott ernennt sich selbst zur Quelle aller Vorschriften, zur höchsten Autorität, und alles Folgende, die Einzelschicksale der Kinder Israels wie auch ihrer Nachbarn, die Gott würgt respektive vertilgt, erklären sich daraus. Die Bibel handelt sehr selten vom Glück, allermeist vom Unglück der Kinder Israels – das war der Trick, erinnerte sich mein alter Freund M., die Predigerkaste führte einfach jeden Schicksalsschlag auf Gottes Willen zurück, den eine Ungehorsamsleistung seines Volkes provoziert habe. So entsprach noch die babylonische Gefangenschaft dem Willen des Herrn Zebaoth; keineswegs dem Willen der babylonischen Götter, die sich gegen ihn durchgesetzt und sein Volk entführt hätten. Sie haben, verglichen mit ihm, ja keine Macht (außer der, ihn in Wut zu versetzen, wenn die Kinder Israels sie anbeten).

Besonders trickreich gestaltet sich dies Verhältnis bei den Propheten. Oft nämlich haben die Kinder Israels ihren eigenen Ungehorsam gar nicht richtig mitbekommen. „Höret, ihr Himmel! und Erde, nimm zu Ohren! denn der Herr redet: Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen. Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk vernimmt’s nicht. Oh weh des sündigen Volks, des Volks von großer Missetat, des boshaften Samens, der verderbten Kinder, die den Herrn verlassen, den Heiligen in Israel lästern, zurückweichen!“ (Jesaja 1; 2–4)

Dies ist die Aufgabe des Propheten: den Kindern Israels ihren Ungehorsam gegenüber dem Herrn überhaupt erst einmal aufzuzeigen – dann folgt eine eigentümliche, heftige Mischung aus Drohung und Versprechen. Furchtbare Strafen stehen an, weil Gott die Unterwerfung verweigert wurde, Strafen, die, wie gesagt, auch von Babyloniern, Syrern und Ägyptern im Namen des Herrn exekutiert werden können. Ist das Volk Israel wieder gehorsam, winken aber wunderbare Belohnungen, und die Babylonier, Syrer und Ägypter werden kommen, um sich ihrerseits dem Herrn zu unterwerfen. Das zieht sich durch, sagte mein alter Freund M., bis in die Offenbarung Johannis, wo Drohungen und Versprechungen ununterbrochen abwechseln.

Okay, mögen Sie einwenden, mit dem Herrn Zebaoth ist nicht gut Kirschen essen. Aber dann gibt es doch noch einen jungen Herrn, und mit dem muss richtig gut Kirschen essen sein. Der Herr Jesus ist geradezu der Inbegriff dessen? Ich muss gestehen, dass ich mit dieser Abteilung des Buches der Bücher, das keines ist, noch nicht ganz durch bin. Aber die Verbindungen zwischen dem alten und dem jungen Herrn – so haben wir’s im Religions- und Konfirmandenunterricht gelernt – sind erkennbar innig. Im Grunde betritt der junge Herr als Prophet die Bühne, der die Autorität des alten mit neuer Geltung ausstatten soll. Dabei unterscheidet er sich zugleich substanziell von den anderen Propheten, insofern er sich direkter Abstammung erfreut: „Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Matthäus 3; 17)

Seine hohe Abkunft und die Autorität, die sie ihm verleiht, beweist der junge Herr durch eine Reihe von Wundertaten, unheilbar Kranke heilen, Tote zum Leben erwecken, auf dem Wasser gehen, Brotlaibe vervielfältigen. Sowie durch ein ununterbrochenes Reden, das sich predigtartig (wie bei den Propheten), gern aber auch in Gleichnissen artikuliert. Ich erinnere mich gut, dass ich im Unterricht nie verstand, was dies bloß indirekte Verkündigen eigentlich bewirken sollte? „Selig sind, die geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr!“ (Matthäus 5; 3) Dies ist der erste Satz der notorischen Bergpredigt, und die Anstrengungen zu seiner Deutung haben ganze Bibliotheken hervorgebracht. Wobei der Protestant außerdem gehalten ist, mit eigenen Augen zu lesen und sich mit seinem eigenen Kopf einen Reim darauf zu machen.

Bei den Gleichnissen geht’s ebenso zu: „Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis das er ganz durchsäuert ward.“ (Matthäus 13; 33) Immer wenn er in irgendeinem Manuskript, erzählte Achim, der Redakteur, ein Bibelzitat zu überprüfen hat, kommt er darauf, dass es ihm unverständlich bleibt. Will sagen, das Problem, auf das wir ganz am Anfang gestoßen sind, prägt das Buch der Bücher durch und durch.

Die Heilige Schrift, Gottes Wort ist verworren und lässt die Frommen, die bereit sind, sich dieser höchsten Autorität bedingungslos zu unterwerfen, im Unklaren darüber, welche Gehorsamsleistungen genau sie erbringen müssen, um den Strafaktionen des Herrn zu entgehen. Was den jungen Herrn betrifft, so kompliziert die Geschichte zusätzlich der viehische Tod, den ihm sein Vater – anders als Abraham Isaak – bereitet. Gottvater lässt seinen Sohn ans Kreuz schlagen, wo er über Stunden bei Wind und Wetter verrottet, und wir sollen das Menschenopfer – das einzige, das im Buch der Bücher vorkommt – zugleich als höchsten Akt der Versöhnung verstehen.

Mein alter Freund Scheel und ich, Kinogeher, haben es strikt vermieden, das Splattermovie, das Mel Gibson aus der Passion Christi gemacht hat, anzuschauen. Religionsgeschichtlich höchst gehaltvoll unter den Verfilmungen des Buchs der Bücher ist vermutlich „Das Leben des Brian“ von Monty Python, das mir beim ersten Sehen einen richtigen Lachkrampf beschert hat. An Ridley Scotts „Gladiator“ wussten wir zu loben, dass er ganz ohne christliches Material auskommt, das in „Quo vadis?“ und „Das Gewand“ und „Ben Hur“ immer durchgestanden sein muss, bis man sich wieder an den blutigen Kämpfen und den schönen halbnackten Menschen erfreuen kann. Vom Herrn Zebaoth, der ja ein Bilderverbot über sich selbst verhängt hat, muss ich noch berichten, dass er seit Cecil B. DeMilles „Zehn Geboten“ für mich wie Charlton Heston ausschaut, wenn Haar und Bart weiß geworden sind (also wie Moses – was der theologischen Situation durchaus entspricht).

Aber wie kommt es, fragte mein junger Freund W., als ich von meiner Bibellektüre erzählte, dass uns die Frage nach einer höchsten Autorität und wie man ihr folgt nicht mehr so richtig interessiert? Weil sich andere, erfolgreichere Formen der Handlungskoordinierung und Weltdeutung entwickelt haben, Diskussion, Abstimmung, Forschung, selbstständiges Denken.

Damit hat sich die moderne Welt von der alten abgeschieden. Wir können Hitze oder Unwetter, den Gewaltverzicht der IRA, den Krieg im Irak oder was auch immer verstehen, ohne auf Gottes Willen und seine unerklärlichen Belohnungen und Bestrafungen zurückzukommen, die uns Propheten aus unserem Ungehorsam gegen ihn, der uns völlig entgangen war, ableiten.

MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, veröffentlichte zuletzt das Buch „Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte“ (Ullstein Verlag, München 2004, 206 Seiten mit Abbildungen, 20 Euro)