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Archiv-Artikel

„Die Krise der SPD ist viel tiefer als vermutet“

Bei den Wahlen wird die SPD, selbst wenn es blendend für sie läuft, nicht über 33 Prozent kommen. Die Wähler wollen zwar die politischen Ziele der SPD und lehnen die der Union ab, trauen der Partei aber keine Verbesserungen mehr zu

taz: Herr Güllner, Sie prognostizieren, dass die SPD trotz Schröder nicht mehr als 33 Prozent erreicht. Wieso?

Manfred Güllner: Wenn man sieht, wie viele Wähler seit 2002 zu anderen Parteien abgewandert sind, sei es zur CDU, zu den Grünen oder nun zur Linkspartei, und hinzunimmt, wie viele noch unentschlossen sind, kommt man zu dem Ergebnis, dass die SPD nicht mehr erreichen kann.

Wie viele Wähler sind noch unentschlossen?

Ungefähr ein Viertel der Wähler von 2002. Selbst wenn alle Unentschlossenen sich doch für die SPD entschieden, käme sie auf nicht mehr als 33 oder 34 Prozent.

Auf der anderen Seite bewirken Äußerungen wie die von Edmund Stoiber, dass mögliche CDU/CSU-Wähler im Osten abgeschreckt werden. Wohin wandern die ab?

In die Unentschlossenheit. Die größten Bewegungen haben wir ja nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen dem Lager der Unentschlossenen und den Parteien. Allerdings müssen sich Aussagen wie die von Stoiber keineswegs nur negativ auswirken. Die Wahlen werden nämlich nicht im Osten entschieden, wo nur 20 Prozent der Wahlberechtigten wohnen, sondern im Westen. Und hier bedienen solche Aussagen den Unmut der Bürger, die ohnehin denken, dass zu viel Geld in den Osten fließt – und im Westen fehlt es, um die Schlaglöcher zu beseitigen oder Schulen zu renovieren.

Die Wähler im Osten sind allerdings nicht so festgelegt, sodass ihre größere Wechselbereitschaft wahlentscheidend sein könnte.

Es gibt nun jedoch im Osten einen relativ stabilen Block: die Linkspartei. Deren Anhänger haben eine homogene Befindlichkeit. Sie fühlen sich als Verlierer der deutschen Einheit, als sozial benachteiligt, als von den Wessis über den Tisch gezogen. Sie glauben, dass sich keiner um sie kümmert – außer der Linkspartei.PDS. Das ist die Kümmerpartei. Sie ist von den Äußerungen Stoibers zweifellos stabilisiert worden, obwohl ich das empirisch noch nicht belegen kann.

Nun gibt es die PDS ja schon eine Weile. Wie erklären Sie sich, dass sie erst jetzt als Linkspartei nicht mehr nur 20 Prozent, sondern über 30 Prozent Zustimmung in den Umfragen hat?

Ich glaube, dass die PDS auch so einen Sprung nach vorne gemacht hätte. Sie ist als Kümmerpartei im Osten einfach erfolgreich. Nur 2002 während der Oderflut konnte Schröder mit der SPD ihr hier Konkurrenz machen. Damals brauchte man die PDS nicht, und entsprechend schlecht schnitt sie ab.

Diese Wahl unterscheidet sich grundsätzlich von früheren Entscheidungen, weil wahrscheinlich auf Anhieb eine neue dritte Kraft ins Parlament einziehen wird. Profitiert die Linkspartei nur von der Unzufriedenheit der Wähler?

Man muss das nach Ost und West differenzieren. Im Osten sind die Wähler tatsächlich maßlos enttäuscht über die anderen Parteien. Im Westen wählen nicht die unteren sozialen Schichten die WASG. Die gibt zwar vor, genau sie zu vertreten, aber die Anhänger sind in der Regel nicht Arbeiter, Rentner oder Arbeitslose. Es sind überwiegend Beamte, Angestellte im mittleren und gehobenen Dienst, die ihre Interessen selbst vertreten können und keine Kümmerpartei brauchen. Etwas überspitzt gesagt: Die glücklichen 68er sind bei den Grünen, die unglücklichen sind nun bei der WASG gelandet. Das ist ein Typ von westdeutschen Intellektuellen, überwiegend zwischen 45 und 60 Jahre alt, dreiviertel Männer – das ist eine ganz andere Struktur als bei der PDS.

Auf jeden Fall dürfte die SPD im Westen wie im Osten Wähler verlieren. Was kann Schröder also noch tun?

Das ist schwierig. Ein bisschen mehr linkes Programm, wie beim Wahlmanifest, bewirkt gar nichts. Das Problem ist: Viele der ehemaligen SPD-Wähler zweifeln an den Fähigkeiten der Partei.

Aber nicht am Spitzenkandidaten …

Sicher. Doch wir haben es in Nordrhein-Westfalen und vor allem in Schleswig-Holstein gesehen. Trotz hervorragender Werte wurden Peer Steinbrück und Heide Simonis nicht wieder gewählt. Viele würden Schröder lieber behalten, wollen aber die Partei nicht mehr wählen.

Im Unterschied zu den Landtagswahlen hat die Opposition entscheidende Defizite: Sie bietet die „Leichtmatrosen“ Merkel und Westerwelle, denen man nicht viel zutraut – und sie mutet den Wählern ein Programm zu, dass die unbeliebte Agenda-2010-Politik noch verschärft.

Dennoch ist noch wichtiger, dass man der SPD nichts mehr zutraut. Wir haben bei einer Umfrage festgestellt: Die fünf Hauptpunkte des SPD-Programms werden von einer großen Mehrheit befürwortet, die fünf Hauptpunkte des CDU-Programms haben keine Mehrheit. Und: Auch wenn die Wähler an Merkel und Westerwelles Fähigkeiten zweifeln, werden sie sie wählen.

Es gibt also eine Wechselstimmung?

Anders als 1998 gibt es keine generelle Wechselstimmung. Nicht mal 50 Prozent wollen einen Wechsel, aber 80 Prozent glauben, dass es ihn geben wird. Man hat den Regierungswechsel quasi schon vollzogen. 1998 war klar: Kohl sollte nach 16 Jahren endlich abtreten, Schröder war ein Hoffnungsträger. Er galt als jung, dynamisch, ökonomisch beschlagen. Von ihm erwartete man, dass er das Land erneuert. So etwas sagt man über Angela Merkel heute nicht. Sie ist diszipliniert und fleißig, aber große Hoffnungen knüpfen sich nicht an sie.

Wenn die CDU die Wahlen gewinnt und keinen Wirtschaftsaufschwung oder sinkende Arbeitslosenzahlen erreicht – was bedeutet das für nächsten Bundestagswahlen 2009?

Wenn die Wähler dann so enttäuscht von Schwarz-Gelb sein werden, wie es jetzt schon von Rot-Grün sind, dann entsteht ein politisches Vakuum. Da können noch ganz andere als Lafontaine reinstoßen.

Eine in der Opposition gewandelte Sozialdemokratie könnte davon doch auch profitieren?

Die SPD muss sich ohne Schröder erst einmal wieder finden, und ich sehe im Augenblick niemand, der sie kurzfristig aus der Krise führen könnte. Außerdem ist es ja nicht so, dass die verlorenen Wahlen nur mit Schröders Amtszeit oder der Agenda 2010 zusammenhängen. Es geht nicht nur um eine Gerechtigkeitslücke oder soziale Unausgewogenheit. Die Verluste der SPD haben auf der kommunalen und auf der Landesebene lange vor 1998 eingesetzt.

Was fehlt der SPD: das richtige Programm oder die richtigen Personen?

Beides. Es fehlt ihr eindeutig der Nachwuchs und eine inhaltlich vernünftige Kommunalpolitik. Leider wird oft die Interdependenz zwischen den verschiedenen Politikebenen ausgeblendet. Die SPD ist in den Fünfziger- und Sechzigerjahren groß geworden durch einen kommunalen Vertrauensvorschuss, weil sie inhaltlich und personell etwas zu bieten hatte. Das hat sich geändert. Die Niederlage bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 1999 war nur die Quittung für jahrelange schlechte Kommunalpolitik. Davon hat sich die Partei, nicht nur in NRW, längst nicht erholt.

INTERVIEW: DANIEL HAUFLER