: Macht ihnen den Ossi
Politiker in Ost und West lieben die Kunstfigur des „Ostdeutschen“. Was ließe sich auch besser instrumentalisieren als ein vermeintliches Kollektiv von Frustrierten? Wer da mitspielt, hat verloren
VON CHRISTIAN SEMLER
Gestern auf der Rolltreppe stößt eine Frau ihren Ehemann in die Seite und sagt zu ihm: „Quatsch doch keinen Blödsinn. Du redest, als ob du Stoiber wärst.“ Beide lachen los. Eine Haltung, die von Selbstbewusstsein zeugt. Stoiber figuriert in dieser Momentaufnahme nicht als Beleidiger des Kollektivs „der Ostdeutschen“, dessen Zumutungen geharnischt zurückgewiesen werden müssten. Er ist einfach ein Depp, um es in einem ihm verständlichen Idiom auszudrücken.
Ganz anders die ostdeutschen Politiker. Wolfgang Thierse beispielsweise fordert die Kanzlerkandidatin Angela Merkel auf, „die Herren Stoiber und Schönbohm öffentlich zur Ordnung zu rufen“. In gleichem Atemzug gibt er zu bedenken: „Offensichtlich gibt es viele führende CDU-Politiker, die Ostdeutsche nicht verstehen, die sie verachten, die Ostdeutschen.“ Um zu schließen: „Man kann sich nicht daran gewöhnen, immer wieder als Deutscher zweiter Klasse angesprochen zu werden.“
An dieser Replik ist bemerkenswert, dass Thierse erstens die Kollektivbezeichnung „die Ostdeutschen“ übernimmt, um sie zweitens als Objekt christdemokratischen Unverständnisses, ja der Verachtung in Schutz zu nehmen. Auch sagt er nicht, „ich kann mich [an diese Behandlung als Zweitklassiger] nicht gewöhnen“, sondern er spricht von „man“, was wieder auf kollektive Gemütsregungen verweist. Seiner Rolle als Bundestagspräsident eingedenk ruft er Merkel dazu auf, Stoiber einen Ordnungsruf (!) zu erteilen.
Wir haben hier ein neues Beispiel des bekannten Ost-West-Rollenspiels vor Augen. Die „Ossis“ sind beleidigt, weil die „Wessis“, diese Ignoranten und Belehrungssüchtigen, sie nicht würdigen. Umgekehrt halten die Wessis die Ossis nicht nur für undankbar, sondern auch für unemanzipiert und politisch verstockt. Selbstverständlich betreten wir hier das Feld der kunstvoll gehegten wechselseitigen Stereotype. Aber diese Stereotype sind auch Bestandteil einer Inszenierung auf der politischen Bühne. Sie dienen der psychologischen Fixierung, wo es um einen halbwegs realistischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in allen vier Himmelsrichtungen Deutschlands ginge.
Wer sich als Einwohner von Deutschlands Osten auf diese Spielchen einlässt, hat schon verloren. Drückt er ein kollektives Beleidigtsein aus, so bestätigt er nur den Frustrationsvorwurf. Sagt er aber, Moment mal, ich fühle mich vom Kollektivvorwurf nicht betroffen, denn ich bin ich und damit Herrscher über meinen Gefühlshaushalt, so sagt er sich von den kollektiven Bindungen los, die im Osten auf sehr unterschiedliche Weise ja tatsächlich existieren. Wenngleich nicht in der Kunstfigur „des Ostdeutschen“ mitsamt dessen angeblich tief verwurzelten psychischen Prägungen.
In diesem Zusammenhang erscheint es nützlich, bei der Diagnose Frustration zu verweilen. Wenn es ein Kollektiv gibt, das notorisch frustrationsanfällig ist, dann das der Berufspolitiker. Dem stets präsenten Wunsch nach Anerkennung der Mit- und wenn irgend möglich der Nachwelt steht die empirisch nachgewiesene Geringschätzung seitens des Publikums gegenüber. Und auch wenn die Zustimmung zur Politik wie im bayerischen Fall Stoibers aktenkundig ist, so lauert doch stets der Absturz. Das Rad der Fortuna dreht sich weiter. Lafontaines Bemerkung zu Stoibers eigener doppelter Frustration angesichts der Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 und der späteren Nominierung Angela Merkels als Kanzlerkandidatin ist so unrichtig nicht. Lafontaine hat nur vergessen, seine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen einzubringen.
Und was bedeutet eigentlich der Vorwurf der Kollektiv-Frustration? Grund zur Sorge könnte es doch nur geben, wenn angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau die Menschen in Deutschland ihr Heil in einem Erlöser suchen würden, der sie aus dem Jammertal der Gegenwart führte und an dessen Erleuchtung sie kraft Identifikation teilhaben könnten. Gysi und Lafontaine als totalitäre Führerfiguren? Zu einer solchen Behauptung versteigt sich nicht einmal Stoiber, der Fustrationstheoretiker.
Entgegen dem, was uns Stoiber ebenso suggerieren möchte wie seine Widersacher, die Würdenträger aus dem Osten, ist das politische Landschaftsrelief in den „neuen Ländern“ heute vielgestaltig, entzieht sich bequemen Klassifikationen. Dass Enttäuschung und Wut angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse hier besonders ausgeprägt sind, verweist eher auf zukünftige gesamtdeutsche Haltungen denn auf einen psychischen Defekt, den „die Ostdeutschen“ aus der Vergangenheit mit sich herumschleppen.