Spielen ohne Grenzen

TOKIO-SHIBUYA Flexibilität setzt man bei arbeitenden Japanern voraus. Das Programm des japanischen Theaterfestivals im HAU zeigt die Schattenseite dieser Leistungsgesellschaft

Durch eine Fülle expressiv-sinnlicher Gesten wird Leere verdeutlicht

VON ASTRID HACKEL

Shibuya ist ein Mythos. Alle Japaner kennen das riesige Ausgeh- und Einkaufsviertel von Tokio, wo niemals Stille herrscht und die Musik auf den Straßen diejenige aus dem Walkman übertönt. Shibuya ist nicht einfach nur Sinnbild für Kommerz, Medien und Pop – sein Mythos sind die Medien selbst. In Shibuya werden Soap-Operas, Spielfilme, Mangas und Romane produziert, es gilt aber auch als Zentrum der neuen Theaterszene. Die glitzerbunte Popkulisse überdeckt dabei die eigentliche Bedeutung des Ortsnamens, denn Shibuya heißt wörtlich bitteres Tal, und ein bitteres Tal ist Shibuya vor allem für diejenigen Japaner, die am Konsum nicht teilhaben können.

Seltenes Gastspiel

Diese Widersprüchlichkeit spiegelt sich in Inszenierungen der freien Regisseure und Künstler der jungen Generation wider, die hier ihre Wirkungsstätten haben. Es ist nur passend, dass die Reihe im HAU, die noch bis zum 17. Oktober Arbeiten der wichtigsten Vertreter dieser unabhängigen Szene zeigt, schlicht „Tokio-Shibuya: The Next Generation“ heißt. Das viertägige Programm bietet die seltene Gelegenheit, neben weltweit etablierten japanischen Kunstformen auch einmal Theater, Tanz und Videoinstallationen aus Japan in Berlin zu erleben. Und es eröffnet unbequeme Perspektiven auf die positiv besetzten globaltechnologischen Begriffe Effizienz und Mobilität, die den Themenschwerpunkt der laufenden Asien-Pazifik-Wochen bilden.

Toshiki Okada und seine Gruppe chelfitsch haben den Zwang zur Mobilität verinnerlicht. In „Air Conditioner“ verhandeln sie in drei kurzen Szenen die schwierige Situation der Leiharbeiter in Japan. Schon weil sie jederzeit gekündigt werden können, müssen Leiharbeiter mobil und flexibel bleiben. Immer in Bewegung sind auch die Büroangestellten im Stück. Vordergründig mit der Organisation des Abschiedsessens für ihre entlassene Kollegin Erika beschäftigt, ist die eigentliche Aufführung eine Choreografie scheinbar banaler Alltagsgesten und Floskeln. Ob Erika lieber chinesisch oder Motsunabe, den traditionellen Eintopf mit Innereien, isst, wird zur entscheidenden Frage, vor der die Ungeheuerlichkeit der Kündigung selbst in den Hintergrund tritt.

Die Darsteller verdeutlichen durch eine Fülle expressiv-sinnlicher Gesten und endlos wiederholter Sätze die atemberaubende Leere. Wer hier spricht, setzt seinen ganzen Körper ein. Heftiges Nicken, Schulterzucken, Händewedeln und andere Ticks – die ganze Spannbreite eines irrationalen und komischen Körperalphabets kommt bei Okada zum Tragen. Alles, nur nicht festlegen wollen und können sich diese jungen Leute, und deshalb ist auch die grotesk-witzige Annäherung zweier Büroangestellter im Zug einer Klimaanlage zum ewigen Leerlauf verurteilt.

Lebensgefühl Exzess

Was erst nur komisch wirkt, verlangt während der Aufführung danach, ab- oder zumindest leiser gestellt zu werden. Auf unbequeme Weise offenbart sich im Exzess das Lebensgefühl, das der sogenannten Null-Generation so gern attestiert wird – die totale Vagheit.

Auch Kuro Taninos „Frustrierendes Bilderbuch für Erwachsene“ ist ausgesprochen schwere und klebrige Kost. Die Absurdität des Alltags bricht sich in einer verstörenden Märchenwelt Bahn, die es mit surrealen Albtraumszenarien à la Cronenbergs „Naked Lunch“ aufnehmen kann. Und das, obwohl es sich doch um gutes altes Theater handelt, mit dessen Konventionen Kuro Tanino hemmungslos spielt. Dem Regisseur und Psychiater gelingt es, sein „Frustrierendes Bilderbuch“ szenisch überzeugend und beeindruckend umzusetzen. Er geht von einem derben Naturalismus aus und steigert ihn über eine offensive Erotik ins Psychedelische.

Wie fleischgewordene Märchenfiguren wirken die Mitglieder seiner Gruppe Niwagekidan Penino. Eine Schauspielerin trägt eine Schweinsnase. Ihre absurden Dialoge und Handlungen scheinen allein dem Unterbewusstsein Murashimas entsprungen zu sein. In der Situation, in der sich der junge Mann befindet, stößt man eben leicht an seine Grenzen, denn er bereitet sich auf die gefürchtete Aufnahmeprüfung für die Universität vor. Seine Grenzen werden nicht nur als psychische, sondern auch als sehr reale inszeniert.

Während Toshiki Okada konkrete Alltagssituationen und Probleme künstlerisch stilisiert und damit eine Distanz zum Dargestellten zulässt, rückt Kuro Taninos „Frustrierendes Bilderbuch“ dem Zuschauer auf den Leib. Gefangen sein in Kuro Taninos verstörend absurder Bilderbuchwelt möchte man jedenfalls nicht.

Beide Stücke und weitere noch bis Samstag im HAU