berliner szenen
: Nahverkehr mit Gruselfaktor

In der U-Bahn-Station Rathaus Neukölln sitzt ein Pärchen, das so schaut, als ob es sich gerade in einem Gruselkabinett befindet. Verängstigt blickt er nach hinten, während sie wie versteinert auf die Gleise starrt. Hinter den beiden ist gerade eine Gruppe von vier Besoffenen aus der Bahn gestiegen. Die lallen laut und trinken Wein aus dem Tetrapak. „La-la-lass mich, icke kann noch stehen“, sagt die mit dem Tetrapak, die gerade gestolpert ist und daraufhin von einem ihrer Kumpanen aufgefangen wurde. „Dann gib den Suff her, aber dalli!“, sagt der wiederum, während er zum Te­trapak greift. Sie zieht den aus seiner Reichweite und meint: „Ick gib dir gleich dalli!“ Der Typ, der sich dabei gruselt, blickt zu seiner Begleitung, die immer noch wie versteinert zu den Gleisen starrt.

Ein Mann nähert sich, der ein Hosenbein hochgekrempelt hat, vermutlich, damit seine große Wunde am Unterschenkel Luft bekommt. Die Wunde sieht nicht gut aus. Und sie sieht so aus, als würde sie schon eine ganze Weile existieren, ohne dass sie je behandelt wurde.

Der Mann trägt weiße Einweg-Schlappen, wie sie in Hotels im Bad ausliegen. Das Bein mit der Wunde zieht er nach. Leute, die er passiert, treten unbeteiligt einen Schritt zurück. Auch das Pärchen, das sich gruselt, hat den Mann mit der Wunde inzwischen bemerkt. Man merkt es daran, dass er seine Augen weit aufreißt, während sie ihren Blick nicht von den Gleisen loslässt. Dann tut sich der Notausgang auf. Die U-Bahn fährt ein. Das Pärchen steigt ein und setzt sich. Als ein paar Minuten später ein Jugendlicher neben den beiden einfach so, ohne Vorwarnung, umkippt, ist der Schreck groß. Zumindest eilt der halbe Waggon zur Hilfe. Nur das Pärchen bleibt wie versteinert sitzen. Erst als die beiden beim Kleistpark aussteigen, begreife ich, dass sie das Gruselkabinett waren. Nicht die anderen. Die sind normal hier. Eva Müller-Foell