: Vorbild Gaza-Streifen
Der Abzug der Israelis könnte der von Gewalt geplagten Region Frieden bringen – und zum Modell für das Westjordanland werden. Doch die Chancen dafür stehen nicht gut
Seine politischen Gegner wollten es von Anfang an nicht wahrhaben. Ariel Scharon, der Vater der jüdischen Siedler, der Bulldozer als Bauminister, der tausende ehemals sowjetische Einwanderer jenseits der Waffenstillstandslinie ansiedelte, will die im Gaza-Streifen lebenden Juden notfalls mit Gewalt herausholen? Niemals. Einen politischen Trick warfen sie ihm vor, mit dem Ziel, nur noch härter gegen die Bevölkerung in dem weltweit dichtbesiedeltsten Fleckchen Erde vorzugehen.
Und nun: Eineinhalb Jahre nach Verkündung seines Plans holt Scharon die Israelis aus dem Gaza-Streifen heraus. Er hat eingesehen, dass es strategisch falsch war, sie überhaupt erst dort anzusiedeln. Die Israelis ziehen ab, ohne Verhandlungen, ohne Gegenleistung. Die Palästinenser kommen im Gaza-Streifen, wenngleich von ihrem Ziel Palästina noch weit entfernt, der Selbstbestimmung über ihr Land deutlich näher.
Die 8.000 jüdischen Siedler hielten fast 40 Prozent des Gebietes, blockierten kilometerweit den Zugang zum Meer sowie die von Norden nach Süden führenden Hauptstraßen. Der „Siedlertransit“ teilte das palästinensische Land. Um den ungeliebten Nachbarn eine sichere Heimreise zu gewährleisten, mussten die palästinensischen Autofahrer bisweilen stundenlang in glühender Hitze an militärischen Blockaden ausharren. Das Projekt Gaza hat gute Chancen zu gelingen.
Abgesehen von den rund 8.000 palästinensischen Arbeitern, die in den Gewächshäusern der Siedler ihr Brot verdienten und die nun arbeitslos sind, werden die Lebensverhältnisse der restlichen 1,4 Millionen Palästinenser durch den Wegzug der Juden unmittelbar und automatisch verbessert. Wodurch auch immer motiviert – dafür verdient Scharon Applaus.
Nichts wäre für die Palästinenser nun politisch sinnvoller, als den Gaza-Streifen zu einem Modell zu machen, wie der Nahe Osten aussehen könnte, wenn es keine Besatzung gäbe: friedlich. Die Steine und später die Gewehrschüsse auf israelische Soldaten, die Sprengstoffsätze in Bussen, Straßencafés, Diskotheken und Einkaufszentren hatten ein einziges Ziel – das Ende der Besatzung. Nun, da Soldaten und Siedler gehen, muss auch die Gewalt im Gaza-Streifen zu Ende gehen.
Doch ob Gaza zum Modell für den Brennpunkt Westjordanland werden kann, ist fraglich: Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen. Im Westjordanland haben aus Sicht der israelischen Strategen die jüdischen Siedlungen eine Funktion für die Verteidigung der Städte innerhalb Israels. Logische Konsequenz ist der massive Aus- und Neubau jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Land. Die Kämpfer dort bleiben also unverändert motiviert, das Land vom Besatzer zu befreien. Von vier isolierten Siedlungen im Norden abgesehen, die im September geräumt werden sollen, gibt es vorerst keinen Plan für weitere Evakuierungen. Im Gegenteil: Im Raum Jerusalem ist der Neubau mehrerer tausend neuer Wohneinheiten eine von der Regierung bereits abgesegnete Sache.
Aus Frustration über den Siedlungsausbau, aus Neid mit Blick auf den Gaza-Streifen und aufgrund des Irrglaubens, der israelische Abzug sei Konsequenz des militanten Widerstandes, werden die Palästinenser im Westjordanland eine dritte Intifada beginnen, sollte der Friedensprozess nicht auch dort sehr bald konkrete Formen annehmen.
Bis heute grübeln die israelischen Analysten, was Scharon so sehr zur Eile trieb. Schließlich hätte er den Gaza-Streifen als Faustpfand zurückbehalten können, um bei geeignetem Zeitpunkt palästinensische Zugeständnisse dafür auszuhandeln. Wenn der alternde Politiker die Geschichtsbücher vor Augen hatte, die an ihn nicht als den „Schlächter von Sabra und Schatila“ erinnern sollen, wie ihn die Linke über Jahre schimpfte, sondern als Mann des Friedens, dann gäbe es doch noch Hoffnung auf ein fortgesetztes Umdenken mit Blick auf die Westbank. Allerdings nicht im Auftrag des Likud. Denn seine eigene Partei wird ihn nicht noch einmal aufstellen. Zu oft hat sich der Chef über Mehrheitsentscheidungen des eigenen Lagers hinweggesetzt.
Ein Beispiel für demokratisches Handeln war der Entscheidungsprozess in Sachen Gaza-Abzug nämlich nicht. Scharon vertrieb kurzerhand seine Widersacher im eigenen Kabinett von ihren Posten, bevor er sich an die Arbeit machte. Doch er ist nicht der erste Politiker, der sich nicht strikt an die Versprechen aus Wahlkampfzeiten hält. Er reiht sich nun unter so ehrenwerte Namen wie Jitzhak Rabin oder seines Parteifreundes Menachem Begin. Auch der inzwischen verstorbene frühere Ministerpräsident entschied über den Friedensvertrag mit Ägypten mehr oder weniger im Alleingang. Bisweilen muss das Volk offenbar zu seinem Glück gezwungen werden.
Allerdings hat sich die israelische Bevölkerung längst lernfähig gezeigt: Ließ sie im Januar 2003 den sozialistischen Kandidaten abblitzen, weil er mit der Perspektive auf einen unilateralen Abzug aus Gaza in die Parlamentswahlen zog, so zeigen aktuelle Umfragen, dass inzwischen eine deutliche Mehrheit vom Abzug überzeugt ist.
Wie sollen Volk und Premier nun erneut zusammenkommen, wenn die Partei streikt? Die Umfragen geben auch hier Aufschluss: 38 Prozent der Wähler würden ihre Stimme heute einer neuen Partei der Mitte geben, nur noch 14 Prozent dem Likud und ganze 7 Prozent der Arbeitspartei. Vermutlich werden innerhalb der kommenden sechs bis zwölf Monate Wahlen abgehalten. Bis dahin sollte sich Scharon mit seinem Koalitionsfreund Schimon Peres und dem Chef der liberalen Schinui-Partei Tommi Lapid auf einer neuen Liste eingeschrieben haben.
Für die neuen Liberalen stehen nicht nur außenpolitische Fragen auf der Agenda. Demografische Veränderungen innerhalb Israels zwingen zum Handeln. Dabei geht es nicht um eine arabische Mehrheit im Judenstaat, sondern um die wachsende Macht des national-religiösen Lagers. Die deutlich höhere Geburtenrate unter den frommen Juden verschiebt dort die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Anhängern von Rechtsstaat und Gottesstaat.
Die wachsende Gruppe derer, die die Halacha, das jüdische Gesetz, über jedes andere Recht stellen, ist es, die die Demokratie in Gefahr bringt. Der religiöse Fanatismus, den einige jüdische Siedler an den Tag legen, wenn sie stolz ihre Kinder für Großisrael zu opfern bereit sind, unterscheidet sich nur noch wenig von den extremistischen Haltungen jenseits des Zauns.
Solange es noch geht, muss Scharon deshalb Tatsachen schaffen. Eine schrittweise Entmachtung der religiösen Instanzen steht auf der Agenda, ein finanzielles Austrocknen der pädagogischen Einrichtungen, in denen antidemokratische Werte gepredigt werden und natürlich die Festlegung staatlicher Grenzen – also der Abzug aus dem Westjordanland. Diese Chancen jetzt zu verpassen wäre nicht nur für die Palästinenser fatal.
SUSANNE KNAUL