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Archiv-Artikel

Eine schrecklich nette Familie

VERANTWORTUNG Auf dem Boden liegen Essensreste, die Älteste schwänzt, der Kleinste trägt tagelang dieselbe Windel. Aber die Eltern lieben ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern. Soll das Jugendamt sie trennen?

In der Obhut des Staates

■ Die Zahlen: Die Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern in akuten Gefährdungen. Im Jahr 2011 wurden 38.500 Minderjährige in Obhut genommen. Das sind 36 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Gut ein Viertel der Kinder kam anschließend dauerhaft in ein Heim oder eine Pflegefamilie, 12 Prozent kamen in ein Krankenhaus oder eine Psychiatrie. Über 40 Prozent kehrten zu den Eltern zurück.

■ Die Paragrafen: Kinder dürfen auch gegen den Willen der Eltern aus ihren Familien genommen werden, das muss aber ein Gericht entscheiden. Grundlage ist das Bürgerliche Gesetzbuch: „Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes […] gefährdet […], so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“ Zum Beispiel „die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge“.

VON STEFFI UNSLEBER (TEXT) UND FRANZISKA WEGNER (FOTOS)

Als Jessy das Internat schmeißen will, um ihre Geschwister zu beschützen, gibt der Mann vom Jugendamt auf. Die Kinder müssen ins Heim. Es ist ein Tag im November 2011, Sebastian Hardenstein sitzt am Schreibtisch und nimmt Abschied von seinem Optimismus.

Viele Monate lang hatte Hardenstein versucht, Jessy, Timm, Patrick, Marc und Manni Melzig da leben zu lassen, wo Kinder eben aufwachsen: bei ihren Eltern. Er hat Hilfen organisiert, unterstützt, verwaltet. Aber nun geht keins der Kinder mehr regelmäßig in die Schule oder die Kita, niemand spült ab oder räumt die Essensreste vom Teppichboden. Und Manni, der Kleinste, läuft seit zwei Tagen mit einer vollgeschissenen Windel herum. Hardenstein blättert in seinem Büro durch Angebote möglicher Betreuer. Die Kinder sollen an einen Ort im Grünen ziehen, mit Tieren, neun Personen pro Wohngruppe.

Sebastian Hardenstein arbeitet in einer Kleinstadt, in der die Menschen ihre Nachbarn kennen. Deshalb sind alle Namen geändert, und auch die Stadt darf nicht genannt werden. Nur so viel: Der Ort liegt im Osten Deutschlands, und Geld gibt es zwar nicht im Überfluss, aber doch genug. Das Jugendamt kann nach Bedarf und muss nicht nach Budget entscheiden.

Die Melzigs haben Ärger mit dem Amt, seit Jessy, die Älteste, ein Kleinkind war. Heute ist sie 15 und hat vier Geschwister, 13, 8, 5 und 3 Jahre alt. Einen „extrem verwahrlosten Haushalt“ nennt Sebastian Hardenstein den Ort, an dem sie leben. Dass die Kinder dort bleiben dürften, haben sie Hardenstein zu verdanken. Oder: Er ist schuld daran. Das kommt auf den Blickwinkel an.

Wann ist die Entwicklung von Kindern in Gefahr?

Vor Sebastian Hardenstein steht eine Schale mit frischem Obst, auf einem Regal hinter ihm liegt das Sozialgesetzbuch VIII, ein Haufen Paragrafen, seine Arbeitsgrundlage. Seit dem Moment, in dem er die Melzig-Kinder ins Heim schicken wollte, ist fast ein Jahr vergangen. Sebastian Hardenstein ist Mitte dreißig, ein junger Mann, der gerne reist und gerade eine Familie gegründet hat. Es ist nicht lange her, da hat er noch Soziale Arbeit studiert. Wenn er am Computer arbeitet, hört er Loungemusik und öffnet die Fenster, so weit es geht.

Der Bundesgerichtshof definiert: „Kindeswohlgefährdung ist eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“

Hardenstein muss eine Balance finden. Wenn den Kindern etwas passieren sollte, wäre er der Sündenbock. Wenn er sie vorschnell aus der Familie nimmt, wäre er das auch. Kindeswohlgefährdung ist dabei das Kriterium. Nur: Wo beginnt Gefahr?

Als Sebastian Hardenstein die Familie Melzig vor zwei Jahren das erste Mal besucht, hat er gerade erst angefangen, beim Jugendamt zu arbeiten. „Man hatte mich gewarnt, dass die Arbeit langwierig werden würde“, sagt er. Hardenstein stand vor einem Haus, das man bürgerlich nennen könnte – ein Bach nebenan, flanierende Spaziergänger, Kopfsteinpflaster. Dann stieg er die Treppe zur Dachgeschosswohnung hinauf. Als die Tür aufging, kam ihm der Geruch von Schweiß und Rauch entgegen. In der Wohnung gelbe Flecken an den Wänden und schwarz-verschmiertes Sofapolster.

Aber er lernte dort auch Bernd und Silke Melzig kennen, die Eltern. Hardenstein bekam das Gefühl: Mit denen kann man arbeiten. Eine Herausforderung, aber keine, die hoffnungslos wäre.

Im Dachgeschoss des Hauses am Bach, Sommer 2012, ein Montag, 9.30 Uhr. Bernd Melzig, 39, steht im Wohnzimmer, das Haar zerzaust, ein gealterter Junge mit Falten um den Mund. Neben ihm kauert ein Hund, der Teppich wellt sich, an einer Stuhllehne baumelt eine Unterhose.

Franziska Martin ist gekommen, eine Familienhelferin. Sie sortiert mit dem Vater die Wäsche. Die Mutter der Familie, Silke Melzig, ist gerade wegen ihrer Depression in der Psychiatrie.

Bernd Melzig hebt einen Stringtanga hoch.

„Nicole? Oder Jessy?“

Nicole sitzt auf dem Sofa. Sie ist eine Freundin der Melzigs, die ihre Wohnung verloren hat und in Jessys Bett schläft, wenn die unter der Woche weg ist. Heute ist Jessy nicht ins Internat gefahren, sondern mal wieder beim Arzt.

„Jessy hat gestern wieder gekotzt“, sagt Bernd Melzig und hebt eine Jeans aus dem Korb.

„Komisch nur, dass sie schon eine Stunde vorher die Schüssel geholt hat“, ruft Nicole von der Couch. „Und gewartet hat, bis wir ganz ruhig waren.“

„Jessy hat ja Übung im Blaumachen“, sagt Franziska Martin.

Jessy ist die Älteste der Melzig-Kinder. Als sie klein war, klaute sie nachts mit ihren Eltern Essen aus den Mülltonnen der Nachbarn. Es war die Zeit, in der das Jugendamt auf Familie Melzig aufmerksam wurde.

Jessy war die erste Symptomträgerin der Familie. So nennt Hardenstein Kinder, die auffällig werden. Jessy bekam Diabetes. Ob das angeboren war oder durch die schlechte Ernährung entstand, ist unklar. Sicher ist nur: Fast wäre Jessy daran gestorben. Sie hatte herausgefunden, dass sie recht einfach die Schule schwänzen konnte, wenn sie sich Sonntagabend zu wenig Insulin spritzte oder heimlich Süßes aß. Dann kam der Krankenwagen mit Blaulicht und Jessy landete in der Klinik. Ihr Vater kann bis heute keine Sirene ertragen.

Als Jessy mal wieder fast gestorben wäre, beschloss das Jugendamt gemeinsam mit den Eltern, sie in ein Internat zu geben. Die Eltern nennen das so, eigentlich ist es eine betreute Wohnform, ein Heim. Aber Jessy darf jedes Wochenende nach Hause fahren. Zu ihren Geschwistern, die noch dort leben.

Es gibt Kindernamen, die Verantwortlichen wie Sebastian Hardenstein Angst machen. Jessica, Kevin, Chantal. Im März 2005 erstickt in Hamburg die siebenjährige Jessica, halb verhungert, an ihrem Erbrochenen. Im Oktober 2006 finden Mitarbeiter des Jugendamtes Bremen die Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank. Er war misshandelt worden. Im Januar 2012 stirbt die elfjährige Chantal bei ihren drogenabhängigen Pflegeeltern in Hamburg an einer Methadon-Vergiftung.

“Das Jugendamt will von Versäumnissen nichts wissen“, heißt es in solchen Fällen manchmal. Viele der Familien waren dem Amt bekannt, oft hatte der Sachbearbeiter festgestellt, dass keine Kindeswohlgefährdung besteht. Diese Verantwortung lastet auf Hardenstein. Das Amt handelt immer zu früh. Oder zu spät.

Vor Sebastian Hardenstein brummt der Computer. Die Festplatte ist voller alter Dokumente, auch die alten Akten von Bernd Melzig, dem Vater, sind abgespeichert. Darin steht, dass er dreizehn Jahre alt war, als er ins Heim kam. Seine Mutter musste ihn im Schrank verstecken, damit der Vater ihn nicht schlug. Wenn er sich wieder nach draußen traute, fand er seine Mutter oft in einer Blutlache. Auch Silke Koida, seine spätere Frau, war im Heim, später in einer Pflegefamilie. Ihre Eltern waren Alkoholiker. Sie hat sie nie kennengelernt.

„Wir sind bestimmt keine guten Eltern“, sagt der Vater

Bernd und Silke Melzig wurden als Kinder „fremduntergebracht“, wie es in der Amtssprache heißt, aus der Umgebung geholt, die ihre Entwicklung schädigte. Dennoch kam ihnen die Ordnung im Leben abhanden.

Bei Bernd Melzig war es der Mauerfall. Er hatte eine Lehre als Viehwirt begonnen, dann wurde sein Betrieb geschlossen und er arbeitslos. Dazu kamen die Drogen, hauptsächlich Marihuana, aber auch vieles andere. Er heiratete in dieser Zeit Silke Koida. Aber seine Frau versank in Depressionen, schlief manchmal 16 Stunden am Tag. Sie vergaßen den Haushalt einfach, das Aufräumen, Putzen. Irgendwann kamen die Kinder, die im Dreck aufwuchsen, an den sich ihre Eltern längst gewöhnt hatten.

Das Haus am Bach, derselbe Montag, 10.30 Uhr. Jessy kommt vom Arzt zurück, knallt eine Packung Tabletten vor ihren Vater auf den Wohnzimmertisch. „Gegen Scheißeritis!“ Sie setzt sich, ein Mädchen mit bauschigen Haaren in Jogginghose und Top mit „Jägermeister“-Schriftzug.

„Du hast Durchfall?“, fragt Bernd Melzig.

„Klar, schon die ganze Zeit!“

Der Vater stopft Zigaretten. „Willst du rauchen, Jessy?“

„Mmh, ja.“

Bernd Melzig gibt ihr eine Zigarette. Die Familienhelfer haben von ihm gefordert, dass er für die Kinder klare Regeln aufstellt. Zum Beispiel: Jessy raucht nur in Gegenwart des Vaters.

Die Familienhelfer sind das Korsett des Alltags bei den Melzigs. Franziska Martin organisiert mit der Familie den Haushalt, fast jeden Tag, dazu kommen zweimal wöchentlich sozialpädagogische Familienhelfer. Insgesamt bekommt die Familie dreißig Stunden Unterstützung pro Woche. Normal sind sechs Stunden, und auch nur über einen kurzen Zeitraum. Bei Melzigs macht der Jugendamtsmitarbeiter Hardenstein eine große Ausnahme. Aber eigentlich ist das schlecht. Die Familie wird so immer unselbstständiger. Man könnte auch sagen: Das Jugendamt erhält das System.

„Wir sind ein bisschen wie Eltern für sie“, sagt Hardenstein in seinem Büro. Er steht auf und schaltet den Wasserkocher ein, um türkischen Kaffee zu kochen. „Bernd und Silke Melzig sind quasi unsere Kinder und gerade in der Pubertät. Manchmal wissen sie schon selbst, was sie tun sollen, dann loben wir sie. Manchmal meckern sie ein bisschen. Aber eigentlich haben wir eine gute Beziehung zu ihnen.“

Es gibt im Jugendamt der Stadt ein geflügeltes Wort: Melzigbonus. Das bedeutet, dass für die Familie andere Maßstäbe gelten, weil sie so gut kooperiert.

Im Sommer 2011 beschließt Hardenstein, die Hilfe zu reduzieren. Es läuft gerade gut bei den Melzigs. Gemeinsam mit den Familienhelfern entscheidet er: Im November 2011 soll die Familie alleine klarkommen. Bis dahin werden die Besuche seltener. Silke und Bernd Melzig, die pubertierenden Kinder, sollen nach zwölf Jahren Familienhilfe erwachsen werden. Sebastian Hardenstein ist optimistisch.

Hardenstein, der den Melzigs helfen will, hat seine eigene Geschichte. Aber er will sie lieber nicht erzählen. „Sagen wir: In meiner Familie ist auch nicht alles toll gelaufen.“ Er schaut starr geradeaus, dann dreht er den Kopf zum Fenster. Familien in der Mittel- und Oberschicht haben auch ihre Probleme, sagt Hardenstein. Aber bei ihnen dringen sie nicht an die Oberfläche. „Der Rahmen stimmt, aber die Beziehungen darin nicht.“

Er glaubt, dass jeder Sozialarbeiter mit seiner Arbeit etwas kompensiert. Hardenstein will gerne der sein, der den Rahmen kittet, sagt er, wenn die Beziehungen in der Familie noch intakt sind. Wie bei den Melzigs.

„Ich hasse das Internat. Ich wäre viel lieber in meiner Familie geblieben“, sagt Jessy. „Ich würde sofort abhauen, wenn mich jemand in ein Heim stecken würde“, sagt Timm. „Ich hätte Heimweh“, sagt Patrick.

Bernd Melzig sagt: „Wir sind bestimmt keine guten Eltern. Aber wir lieben unsere Kinder.“

Im Dachgeschoss, Sommer 2012, Dienstag, 9.30 Uhr. Die Sonne hat es schwer. Die Fenster sind verschmiert, die Jalousien heruntergelassen und Bernd Melzig sitzt in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Er reibt sich die Augen.

„Schlecht geschlafen“, sagt er. Heute Nacht sei der dreijährige Manni zu ihm aufs Sofa gekrochen. „Er hat mir seine Kackwindel ins Gesicht geschmiert.“ Er grinst schief. „Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Aber ich habe seinen Schlaf bewacht.“

Jetzt sitzt Manni auf dem Schoß des Vaters, sein Kopf liegt in der Armbeuge. Bernd Melzig wiegt ihn, beugt sich nach unten und küsst Manni auf die Backe.

„Na du, mein kleines Baby? Vielleicht war der Horrorfilm doch nichts für dich?“

„Was?“ Die Familienhelfin Franziska Martin dreht sich um.

„Ich hab gestern The Hole angeschaut. Ein super Film. Aber Manni wollte immer mitschauen. Der versteht das ja noch nicht. Das ist eher so ein Psychothriller, den muss man kapieren.“

Im Herbst 2011, ein paar Monate nachdem er die Hilfen für die Melzigs heruntergeschraubt hat, bekommt Sebastian Hardenstein Anrufe von den Lehrern der älteren Kinder. Man würde sie kaum noch in der Schule sehen, sagen die Lehrer. Sie würden über Bauchschmerzen und Übelkeit klagen, bekämen nur noch selten Mahlzeiten. Und Patrick knalle seinen Kopf auf den Tisch.

Sebastian Hardenstein besucht die Familie im November 2011, als sie eigentlich schon ohne Hilfe auskommen sollten. An der Wohnungstür kommt ihm ein fröhlicher Manni entgegen, die Windel bis an den Rand gefüllt. Toilette und Waschbecken sind schwarz vor Dreck. Silke Melzig, die Mutter, sitzt unbeteiligt auf dem Sofa. Jessy weigert sich, wieder ins Internat zu gehen. Sie will lieber für ihre Geschwister da sein.

„Es ist nicht optimal! Es ist alles andere als optimal, aber es ist von den möglichen noch die beste Lösung“

DER MITARBEITER DES JUGENDAMTS

Hardenstein muss sich eingestehen, dass seine Arbeit gescheitert ist.

Ein kleines Wunder: Es läuft plötzlich wieder

Die Eltern sehen ein, dass sie überfordert sind. Sie stimmen zu, dass die Kinder in ein Heim müssen. Gemeinsam einigen sie sich auf eine Einrichtung, Hardenstein trifft Vorbereitungen.

Wochen vergehen, es wird Weihnachten. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass die Familie alles gemeinsam vorbereitet. Da geschieht ein kleines Wunder: Es läuft plötzlich wieder. Die Eltern putzen, waschen, setzen ihren Kindern Grenzen. Und Bernd Melzig sagt dem Mann vom Jugendamt, dass sie das nicht mehr wollen mit dem Heim.

In der Wohnung am Bach, Sommer 2012, Donnerstag, 11 Uhr. Bernd Melzig sucht ein altes Kabel aus seinem Werkzeugkoffer, entfernt die Plastikumhüllung, biegt den Draht zu einem Ring und hält ihn dem dreijährigen Manni hin. Der versteht nicht gleich. Also taucht Bernd Melzig selbst die Schlaufe in das Seifenwasser und bläst. Manni klatscht, die Seifenblasen platzen und der fünfjährige Marc wirft sein Spielzeug weg. Er will auch eine Drahtschlaufe. Bernd Melzig kramt noch einmal im Werkzeugkoffer.

Manni und Marc johlen, laufen durch das Wohnzimmer, hüpfen, und Bernd Melzig rennt ihnen hinterher, fängt sie.

„Die Liebe der Eltern ist eine unschätzbare Ressource“, sagt Sebastian Hardenstein. Er ringt nach Worten, wenn man ihn direkt fragt, ob sich die Kinder in einem Heim besser entwickeln würden. „Allein die Frage hat schon etwas Übergriffiges. Auch wenn die Eltern massive Schwierigkeiten haben, die Grundversorgung ihrer Kinder zu gewährleisten, so sind sie doch immer noch die Bezugspersonen, an denen die Kinder wachsen.“

„Es ist nicht optimal!“, sagt Hardenstein. „Es ist alles andere als optimal, aber es ist von den möglichen noch die beste Lösung. Heimerziehung ist für Kinder immer eine traumatisierende Erfahrung.“

Im achten Sozialgesetzbuch, Paragraf eins, steht: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung.“

Nachdem es bei den Melzigs kurz vor Weihnachten besser läuft, entscheidet Hardenstein, dass die Kinder bleiben dürfen.

Er installiert ein Netz: Familienunterstützende Hilfe, sozialpädagogische Familienhilfe, ein Plan, der alles regelt, alle paar Wochen ein Helfertreffen. 30 Stunden in der Woche. Bis heute, ein knappes Jahr später.

Mit dem Ergebnis, dass es ganz gut läuft bei den Melzigs. Ganz gut heißt, dass manchmal jemand spült, die Kleinen in die Kita gehen und Silke Melzig wieder aus der Psychiatrie zurück ist. Es heißt aber auch, dass die Kinder kotzen, weil der Heringssalat seit Monaten abgelaufen ist und die ganze Wohnung nach Verwesung riecht, weil die Kinder den Stecker zur Gefriertruhe gezogen haben und das monatelang niemand bemerkt hat.

Die Unterstützung hat ihren Preis, aber verglichen mit einem Heim ist sie billig. Ein Heim kostet im Schnitt 150 Euro am Tag, pro Kind. Für Familie Melzig wären das 270.000 Euro im Jahr. Ein Familienhelfer berechnet rund 30 Euro pro Stunde, bei den Melzigs kostet das jährlich 43.200 Euro. Sebastian Hardenstein hat Glück, dass sein Landkreis finanziell so gut dasteht. In vielen Städten sieht das anders aus.

Aber es bleibt ein Problem bei der Familienhilfe: Der Jugendamtskreislauf. Die Kinder aus Problemfamilien gründen neue Problemfamilien. Und landen wieder beim Jugendamt. So wie die Melzig-Eltern selbst.

Bei Jessy wird das wohl so kommen, erwartet die Familienhelferin. Vielleicht ist es auch für den dreizehnjährigen Timm schon zu spät, der seit Monaten Ärger in der Schule hat. Timm geht wegen seiner starken Sehschwäche in eine Blindenschule und wurde dort vom Unterricht suspendiert, weil er ein autistisches Mädchen drangsaliert hat.

Wenn man die Melzigs mit Abstand betrachtet, dann sieht man Kinder mit Entwicklungsstörungen, die schlecht riechen, andere mobben oder selbst gehänselt werden.

„Unser Ziel für die Melzig-Kinder ist“, sagt Hardenstein, „dass eines von ihnen später nicht mit dem Jugendamt zu tun hat.“

So ein Satz kann nach Verzweiflung klingen. Oder nach Hoffnung. Das kommt auf den Blickwinkel an.

Steffi Unsleber, 25, ist freie Journalistin in Berlin

Franziska Wegner, 26, studiert Fotojournalismus in Hannover