Existenzielle Fremdheit

Erschütterungskraft und Kargheit: Agota Kristofs autobiografische Miniaturen-Sammlung „Die Analphabetin“

Das Mädchen sieht gar nicht unglücklich aus. Sicher, die Kleidung wirkt ärmlich. Im Hintergrund ein vergittertes Fenster, eine Wand, von der der Putz bröckelt, ein vereinsamtes Huhn. Doch das Mädchen scheint zu lachen. Eine symbolträchtige Fotografie ziert Agota Kristofs kurze „Autobiografische Erzählung“ – ein Porträt der Autorin im Alter von fünf oder sechs Jahren.

Im Oktober dieses Jahres feiert Kristof ihren 70. Geburtstag. 1956 floh sie aus Ungarn über Umwege in die Schweiz, wo sie schrieb und schrieb, der Sprache des fremden Landes aber nicht mächtig war. In der Schublade stapelten sich die Manuskripte, und um ihr Kind zu versorgen, arbeitete sie in einer Uhrenfabrik. Erst Ende der Achtzigerjahre, mit ihrem Debütroman „Das große Heft“ und den folgenden Büchern „Der Beweis“ und „Die dritte Lüge“, gelang ihr der Durchbruch.

Diese Prosa bestach durch ihre ungeheure Erschütterungskraft bei gleichzeitiger Kargheit. Grausamkeit reihte sich an Grausamkeit, erzählt in einem manchmal geradezu unbeholfen anmutenden Subjekt-Prädikat-Objekt-Stil. Der Grund dafür lag auf der Hand: Kristof schrieb nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Französisch, der „Feindessprache“, die sie nicht nur schlecht beherrschte, sondern die auch, wie sie feststellen muss, „allmählich meine Muttersprache tötet“. So produzierte Kristof in ihrem Status als „Analphabetin“ große europäische Literatur. Ein Wunder beinahe: das Maximum an literarischem Ertrag mit einem Minimum an Vokabular und Grammatik.

Der nun erschienene Text ist nicht Autobiografie und schon gar nicht Erzählung, sondern eine Sammlung von Erinnerungs-Miniaturen, die kleine Schlaglichter auf die Existenz dieser Autorin werfen. Braucht man ein solches Buch, wo es doch diese grandiosen Romane gibt? Nicht unbedingt. Trotzdem finden sich auch hier immer wieder exakt jene Erzählsituationen wieder, die auch die eiskalte Klarheit der früheren Bücher ausmachen. Wenn die Erzählerin etwa ihrem kleinen Bruder, dem Liebling der Mutter, erzählt, er sei nur ein Findelkind, und dafür mit Freude eine Bestrafung in Kauf nimmt; oder der andere Bruder aus Solidarität ebenfalls eine bestrafenswerte Tat begeht – dann lässt sich hier jenes erschreckende Muster erkennen, in dem sich in der Romantrilogie auch die Brüder Lukas und Klaus mit ihrer „Übung zur Abhärtung des Geistes“ oder der „Übung in Grausamkeit“ bewegen.

Und es wird deutlich, woher Kristof ihre pessimistische Weltsicht nimmt –sie wurzelt in einem allumfassenden und existenziellen Gefühl von Fremdheit, das sich spätestens mit der Flucht aus Ungarn eingestellt hat: „Materiell“, schreibt Kristof, „leben wir ein bißchen besser als vorher. (…) Doch im Vergleich zu dem, was wir verloren haben, ist das zu teuer bezahlt.“ Von den ungarischen Flüchtlingen, mit denen sie in die Schweiz kam, sind zwei freiwillig zurückgekehrt (ins Gefängnis), vier haben sich umgebracht. Und Kristof hat geschrieben, um zu leben. Das klingt so banal, wie es in diesem Fall wahr ist.

Ein Kapitel irritiert in der „Analphabetin“ allerdings doch sehr: Wie eine Schriftstellerin, die mit so wenigen Worten so viel Wahrhaftigkeit erzeugt, über Thomas Bernhard, der mit viel Worten so viel Unwahrhaftigkeit erzeugt hat, schreiben kann, er werde „ewig leben, um all denen als Vorbild zu dienen, die den Anspruch erheben, Schriftsteller zu sein“, ist bestenfalls rätselhaft, im Grunde aber schlicht peinlich. Hier zeigen sich im autobiografischen Kontext Pathos und Naivität. Zwei Komponenten, die den Romanen dieser Autorin glücklicherweise fremd sind. CHRISTOPH SCHRÖDER

Agota Kristof: „Die Analphabetin“. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann Verlag, Zürich 2005, 77 Seiten, 12,90 Euro