Die Menge macht‘s nicht aus

Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) ist überzeugt, dass große Klassen mit 27 bis 30 Schülern nicht schaden. Hamburgs Schulen, sagt sie, hatten bisher „über die Maßen zuviel“ an Ressourcen. Schulbücher gibt es doch erst später

„Um gewisse Dinge wird sich hier im Hause jetzt nicht mehr gekümmert. Wenn sich Eltern beklagen, dass Unterricht ausfällt, dann darf das nicht von hier beantwortet werden“

Interview: Kaija Kutter

taz: An der Schule meiner Kinder gibt es die Bücher erst Mitte September. Dies höre ich auch von anderen Schulen. War ihre Aussage zum Schulstart, mit drei Ausnahmen verteilten alle 327 Schulen in „einigen Tagen“ die Bücher, zu optimistisch?

Alexandra Dinges-Dierig: Was ich wiedergegeben habe, sind die Antworten aller Schulen, die von der Schulaufsicht befragt worden sind. Ich selber hatte im Schulausschuss in den Ferien gesagt, ich gehe von vier bis sechs Wochen aus – wie übrigens in jedem Schuljahr bisher. Es handelt sich um eine sehr große Umstellung mit fast 225.000 Schülern. Und es gibt Schulen, die auch bisher einen späteren Rhythmus bei der Bücherbeschaffung hatten.

Die neuen 1. Klassen und auch die 5. Klassen sind mit 27 bis 30 Schülern recht groß. Sind Sie überzeugt, dass dies den Kindern nicht schadet?

Ja.

Da gibt es ganz andere Einschätzungen. Der Erziehungswissenschaftler Peter Struck zum Beispiel sagt, dass die Klassengröße keine Rolle spiele, sei „Unsinn“. Je kleiner eine Klasse sei, desto größer die Chance, dass die Kinder auch durch Reden lernen. Er könnte zehn Kollegen nennen, die das unterstützen.

Solange nicht wirklich verlässliche Studien behaupten, dass kleinere Klassen zu besserenLernerfolgen führen, bleibe ich dabei, dass die Klassengröße keine Rolle spielt. Mich wundert, wenn Herr Struck sagt, die Kinder würden in kleineren Klassen mehr zum Sprechen kommen. Das ist ja fast ein Offenbarungseid. Dahinter steht eine ganz bestimmte Art des Unterrichtens: Ich rufe Schüler auf.

Struck sagt, je größer die Klassen, desto eher gingen Lehrer zu Frontalunterricht über.

Das ist ja gerade nicht der Fall. Gehen Sie mal in Waldorfschulen, wo wirklich große Klassen sind. Wenn Sie dort Lehrer haben, die mit allen Methoden auch umgehen können, dann merken Sie, dass Unterricht völlig anders ablaufen kann.

„Kann“ ist keine Garantie.

Nein. Aber es liegt in der Verantwortung des Lehrers, sich darauf einzustellen.

Der Geschäftsführer der Waldorfschule Wandsbek, Matthias Farr, sagte, die großen Klassen funktionierten dort nur, weil sie eine bestimmte Schülerklientel haben und die Klassen oft geteilt werden.

Aber sie bekommen für jedes Kind, das über der Basisfrequenz von 24 liegt, 1,2 Teilungsstunden dazu. Bei 30 Kindern sind das acht Teilungsstunden!

Nur 6,6 sagt die GAL.

Das hängt von der Schulform ab. Nehmen wir die Mitte. Dann hat die Klasse sieben Stunden plus!

Die nicht in jeder Klasse ankommen. Ein mir bekanntes Kind hatte jetzt in der 3. Klasse bei 28 Schülern keine Teilungsstunde.

Das ist offenbar ein schulinternes Problem.

Sie sagen in der öffentlichen Debatte, es gäbe diese Stunden. Die Eltern sehen sich dadurch beruhigt. Dann müssen sie sich auch darauf verlassen können.

Sowohl die Eltern als auch wir. Deswegen werden wir so etwas künftig in Ziel- und Leistungsvereinbarungen festhalten. Die Schule muss in einem Bericht nachweisen, wo diese Stunden hinfließen.

Der Schulleiter sagt aber, er habe nicht mehr Stunden. Die Klassenlehrerin hat aber ein Deputat von mehr als 30 Stunden, die sie vormittags nicht alle unterbringen kann. Deshalb bietet sie zweimal nach Schulschluss eine Stunde Hausaufgabenhilfe an. Und die zählt dann als Teilungsstunde.

Das macht Sinn. Diese Stunden müssen nicht für Teilung zur Verfügung stehen. Die Schule kann sie für diese Nachmittagsförderung nutzen.

Aber dann sind 28 Schüler im Schulalltag immer mit einer Lehrerin allein. Das ist ein Schüler-Lehrer-Verhältnis von 1 zu 28!

Sie haben zwei Stunden dazu.

Das ist zu wenig.

Es ist nicht zu wenig. Sie haben aber noch viel mehr Stunden, und es ist interessant zu wissen, wo die hinfließen. In anderthalb Jahren werden das Eltern in dem Bericht ihrer Schule nachlesen können. Die Schulen müssen dann auch die Ergebnisse präsentieren, die sie mit dieser Stundenverteilung erzielen.

Es gibt eine neue US-Studie von der University at Buffalo. Dort verfolgten Wissenschaftler den Lebensweg von 5.000 Grundschülern. Von jenen, die in kleinen Klassen mit 13 bis 17 Schülern lernten, schafften 15 Prozent mehr den High-School-Abschluss als von der Vergleichsgruppe, die mit 18 bis 26 lernte. Bei ärmeren Kindern schafften es 25 Prozent mehr.

Meine Aussage bezieht sich auf die international üblichen Klassengrößen zwischen 18 und 32 Schülern.

Vielleicht machen so kleine Klassen aber Sinn?

Die sind nicht finanzierbar, in keinem Land. Wo haben wir denn die guten Ergebnisse? In den Niederlanden, in Flandern, in Finnland oder sonstwo. Da haben sie auch keine kleinen Klassen.

Eine Lehrerin sagte mir: „Je kleiner die Kinder, desto wichtiger ist die Beziehung zum Lehrer.“ Diese zu allen Kindern aufzubauen, sei in großen Klassen schwer. Haben Sie die Kinder im Blick?

Pausenlos. Bei unseren Reformen geht es nur darum, dass das Kind mehr mitnimmt von Schule. Ich glaube aber, die Beziehung zum Kind wird anders aufgebaut. Das hat nichts mit der Menge zu tun, sondern ist eine ganz starke Persönlickeitssache: Wie die Lehrkraft aufs Kind zugeht.

Damit die Kinder in vollen Klassen gut versorgt sind, brauchen wir also Spitzenkräfte.

Die haben wir. Wir haben sehr, sehr gute Lehrer. Aber wir haben auch schwächere Lehrer.

Das ist das Prinzip Trial and Error.

Wir haben Beweise, dass es mit diesen Klassengrößen geht.

Meinen Sie auch die KESS-Studie von 2003?

Zum Beispiel. Da gibt es Schulen mit dem niedrigsten Sozialindex und unseren durchschnittlichen Klassengrößen, die überraschend gute Ergebnisse zeigen.

Aber Sie haben die damals guten Rahmenbedingungen durch die Absenkung der Sprach- und Leseförderung verschlechtert.

Mit Sicherheit haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Das liegt aber daran, dass wir das sozusagen „über die Maßen zuviel“ hatten. Das gilt im Bundesvergleich noch heute.

Im Bundesvergleich hatte Hamburg schon 2003 mit 23,8 die höchste Schülerzahl pro Grundschulklasse.

Weil die Flächenländer aus geographischen Gründen kleinere Klassen haben – Stichwort Zwergenschule. Ich spreche von den Rahmenbedingen. Was Hamburg pro Schüler ausgibt, liegt weit über den anderen.

Die CDU-Fraktion sagte in den Ferien, nicht alles davon komme beim Schüler an.

Heute kommt mehr beim Schüler an als vor fünf Jahren. Nehmen wir diese Förderstunden am Nachmittag. Es gab früher Massen an Stunden, die verfallen sind, weil die Lehrer nicht bereit waren, sie zu geben.

Sie meinen die 28. Stunde für Vollzeitkräfte, die nicht mehr in den Vormittag passte.

Ja. Die wurde bezahlt und kam nicht beim Kind an.

Die 28. Stunde war Folge einer Arbeitszeiterhöhung, zu der die Grundschullehrer 1995 gezwungen wurden. Sie konnten die nicht geben, weil der Stundenplan der Halbtagsschule nur 27 Stunden hat.

Sie könnten aber auch am Nachmittag ein Angebot machen. Der Schultag endet nicht um 13 Uhr. Es wurde in der Vergangenheit nicht verantwortungsvoll mit den Ressourcen umgegangen. Wir werden nicht mehr die Augen zumachen, sondern mit Qualitätssicherung und Kennziffern messen, wie die Schulen arbeiten. Das Erschreckendste an der KESS-Studie war, dass viele Lehrer sich gar nicht für die Ergebnisse verantwortlich fühlten. Dabei sind nur sie dafür verantwortlich.

Sie planen ab 2006 die selbstverantwortete Schule. Welche Freiheiten kriegt sie?

Wir werden sehr schulindividuell Ziele verabreden. Dann hat die Schule die Möglichkeit, sich den Weg selbst zu suchen. Ein Beispiel im Grundschulbereich ist der Streit, ob Noten oder Berichte der richtige Weg sind. Ich halte das für einen künstlichen Streit. Wichtig ist doch, zu definieren, was die Kinder am Ende des 4. Schuljahrs können müssen. Oder ein anderes Beispiel: Haupt- und Realschule, integriert unterrichten oder nicht. Muss das ein Thema sein?

Wir haben die Kompetenzen am Ende von Klasse 9 beschrieben. Wir werden zentrale Vergleichsarbeiten machen, die nur der Evaluation dienen. Aber muss es meine Aufgabe sein, zu sagen, ihr habt euch so oder so zu organisieren? Wichtig ist, dass die Ergebnisse stimmen. Es wird ein anderes Denken sein. Es müssen sich auch erst alle daran gewöhnen, dass sich in diesem Hause jetzt um gewisse Dinge nicht mehr gekümmert wird. Wenn sich Eltern beklagen, dass Unterricht ausfällt, dann darf das nicht von hier beantwortet werden. Dann muss das die Schule klären.

Ohne Ressourcen?

Die Ausstattung der Schulen liegt über 100 Prozent. Das sind genug Ressourcen, um den Unterricht stattfinden zu lassen, einschließlich Förderung.

Gilt denn dann noch die Verfügung vom Mai 2004, dass Schulleiter sich ohne Behördenabsprache nicht öffentlich äußern dürfen?

Das ist eine alte Dienstanweisung von 1974, an die wir nur erinnert haben. Ich erwarte von meinen Mitarbeitern Loyalität. Die Schulen dürfen sich aber, das haben wir deutlich gesagt, zu ihren eigenen Angelegenheiten äußern.

Zu ihren Schulbüchern?

Ja. Wenn Sie fragen, wie viel Prozent neue Bücher haben sie, dann kann der Schulleiter das sagen. Es ist seine Schule.

Kann er sagen: „Ich finde Frau Dinges-Dierigs Einschätzung falsch, dass für 28 Schüler zwei Förderstunden genug sind“?

Kommt darauf an, wie er es sagt. Das ist hart an der Grenze.