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Archiv-Artikel

Mitleid für die deutsche Frau

Die Hälfte der türkischstämmigen MigrantInnen hat ein modernes Frauenbild. Aber beneidenswert finden sie das Leben ihrer deutschen Geschlechtsgenossinnen nicht

BERLIN taz ■ Eine kopftuchtragende Frau, die des Deutschen nicht mächtig ist und auf der Straße drei Schritte hinter ihrem Mann geht – dieses Bild der türkischen Migrantin ist in Köpfen und Medien hierzulande noch immer das vorherrschende. Das Zentrum für Türkeistudien (ZfT) hat jetzt eine Untersuchung vorgelegt, die ein differenzierteres, durchaus aber auch widersprüchliches Bild vom Leben türkischstämmiger Frauen in Deutschland zeigt. Danach hat die Hälfte der MigrantInnen aus der Türkei ein modernes Frauenbild im Sinne einer qualifizierten und erwerbstätigen Frau.

Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. „Türkischstämmige Männer und Frauen sind sich hinsichtlich ihrer Lebenseinstellungen ähnlicher, als oft vermutet“, sagt der Direktor des ZfT, Faruk Sen. „Es ist nicht so, dass sich in der türkischen Community emanzipationsorientierte Frauen und einem traditionellen Rollenbild verhaftete Männer klar gegenüber stehen.“ Das Essener ZfT hat im vergangenen Jahr 1.000 türkischstämmige MigrantInnen in Nordrhein-Westfalen telefonisch befragt. Die Untersuchung, die zweisprachig durchgeführt wurde, ist repräsentativ. Das moderne Frauenbild aber steht im Widerspruch zur Lebensrealität vieler Migrantinnen. Zwar sind Bildungsniveau und Deutschkenntnisse der Frauen nur unwesentlich schlechter als die der Männer, doch 59 Prozent der Migrantinnen haben keine Berufsausbildung (Männer: 40 Prozent). Vor allem die Gründung einer eigenen Familie und der Widerstand der Eltern halten von einer Ausbildung ab. Hier sieht das ZfT dringenden Förderbedarf.

Das gilt auch für die Erwerbstätigkeit der türkischstämmigen Frauen. Gerade mal ein Drittel von ihnen ist erwerbstätig, nur ein Fünftel von ihnen hat einen Vollzeitjob. Doch 60 Prozent der Hausfrauen würden gerne arbeiten. Die meisten von ihnen hält die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie davon ab. Das liegt übrigens nicht daran, wie häufig behauptet wird, dass türkische Familie ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken. In 82 Prozent der Familien ist das der Fall. Vielmehr sei die fehlende Betreuung der Schulkinder das Problem. Und die mangelnde Unterstützung der türkischstämmigen Ehemänner, die sich von der Hausarbeit lieber fernhalten. Acht Prozent der Frauen arbeiten nicht, weil ihr Mann das nicht will. „Erschreckend hoch“ (ZfT) ist die Zahl der Frauen, die kein Geld zur eigenen Verfügung hat: Das ist bei einem Viertel der befragten Frauen der Fall.

Anders als die erhitzten Debatten über Ehrenmorde und Zwangsheiraten in den vergangenen Monaten vermuten lassen, spricht sich die überwiegende Mehrheit der MigrantInnen klar gegen familiäre Gewalt aus: Mehr als 90 Prozent der Frauen wie der Männer stimmen der Forderung nach stärkerer Ächtung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zu. Und zwar weitgehend unabhängig vom Alter, dem Bildungsstand und der sozialen Situation der Befragten.

Die Mehrheit der MigrantInnen ist zudem der Ansicht, dass deutsche Frauen eine größere Freiheit bei der Partnerwahl und auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Dennoch sehen auch jene, die ein modernes Frauenbild haben, das Leben der deutschen Frauen nur eingeschränkt als Vorbild. Die Mehrheit bedauert die deutschen Frauen wegen ihrer fehlenden familiären Einbindung und der Doppelbelastung von Beruf und Familie.

SABINE AM ORDE