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Archiv-Artikel

Denken und denken lassen

Political Studies (VIII): Etwa hundert Think-Tanks gibt es in Deutschland, die Politik hat einen hohen Beratungsbedarf. Der Wunsch nach Versachlichung der Entscheidungen hat aber irrationale Seiten

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON CORD RIECHELMANN

Als sich die politische Selbstgenügsamkeit der Regierung Helmut Kohls dem Ende näherte, gab es in linken – genauer: marxistisch inspirierten Kreisen – einen warnenden Witz, der meist in Richtung bekannter Sympathisanten des rot-grünen Projektes gesprochen wurde. Das Beste an Kohl sei, hieß es, dass er Leute wie Norbert Bolz, Ulrich Beck und Heinz Bude erst gar nicht in seine Nähe lassen würde. Daraus sprach eine doppelte Skepsis. Einmal richtete sie sich gegen die Euphorie, dass mit dem Kanzler Gerhard Schröder die Politik sich endlich für wissenschaftliche Beratung öffnen würde und damit auch auf ein wissenschaftliches Fundament gestellt werden könnte. Zum anderen sprach daraus eine Zurückhaltung gegenüber dem Typus des Beraters selbst.

Inzwischen hat sich die Hoffnung auf Versachlichung politischer Entscheidungen als Folge wissenschaftlicher Beratung gelegt, und die Berater selbst sind zum Gegenstand der Kritik geworden. Was kein Wunder ist. Man muss sich nur die Plakate und Reden von Parteien und Politikern im gegenwärtigen Wahlkampf ansehen. Viel ist dort von Arbeit schaffen, Arbeitslosigkeit und der „Wirtschaft“ die Rede. Das geschieht selbst bei wenig zurückhaltenden Personen wie Jürgen Rüttgers oder Guido Westerwelle so planlos, dass man auch fragen kann, auf welcher Daten- und Faktenbasis sie ihr Programm entworfen haben. Etwa wenn Rüttgers sagt, er könne natürlich keine Arbeitsplätze schaffen, er könne als Politiker nur dafür sorgen, dass die Bedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen besser würden. Mal abgesehen von Rüttgers’ Gottvertrauen in die arbeitsplatzschaffende Wirkung einer weitgehend autonomisierten Ökonomie, ist seine Stellungnahme politisch schon so sehr auf dem Rückzug, dass er auch gleich die Richtlinien des BDI vorlesen könnte.

Auch wenn kaum noch ein Politiker das Wort Vollbeschäftigung in den Mund nimmt, versuchen sie doch alle zu suggerieren, dass sich mit ihnen die Beschäftigungslage verändern würde. Das wird aber nicht der Fall sein, und keiner kann sagen, er habe es nicht gewusst. Der verstorbene ehemalige Kapital-Herausgeber Johannes Gross hat bereits in den Achtzigerjahren in irgendeiner Wahlnachtsendung lapidar mitgeteilt, Vollbeschäftigung wird es nie mehr geben, und andere Konzepte von Arbeit als das der Lohnarbeit gefordert. An dieser Diagnose hat sich nichts geändert, sie hat sich verschärft, und jeder, der am Flughafen an einem Automaten eincheckt und sich noch erinnert, dass man das mal nur bei Menschen am Schalter konnte, kann sich selbst ausrechnen, dass man für sehr viele Tätigkeiten in Zukunft keine Menschen mehr braucht und dass mit jedem Automaten ein oder mehrere so genannte Arbeitsplätze verschwinden. Um das zu merken, muss man kein Ökonom sein oder eine Expertise des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin einholen.

Und deshalb wird das Beispiel hier erzählt. Den Politikern stehen mit den sieben großen staatlich finanzierten Wirtschaftsforschungsinstituten akademische Denkfabriken zur Verfügung, deren Rat sie jederzeit einholen können. Trotzdem gibt es im gegenwärtigen Wahlkampf nicht ein Konzept zur Arbeit und zum so genannten Arbeitsmarkt, das nur halbwegs realistisch mit den vorhandenen Ressourcen zu rechnen versteht.

Das mag ein eklatanter Fall der Beratungskrise sein, und er mag auch mit den immanenten Schwierigkeiten der gängigen Marktwirtschaftsforschung zu tun haben, die Anarchie des Weltmarktes in wissenschaftlich kontrollierte Analysen und daraus zu ziehenden Prognosen zu packen. Auch zu den Prognosen und Analysen von Nobelpreisträgern für Wirtschaftswissenschaften kann man übrigens bei Gross erhellende Bemerkungen finden. Das Beispiel von den Arbeitskonzepten der Politik und ihren Beratungsgremien enthält auf einem elaborierten Niveau alle Teile, die man für ein System der Beratung braucht. Einerseits die Politik, deren Entscheidungen über Gesetze oder Investitionen bindend für die Gesellschaft werden, und andererseits die Wissenschaft, die idealerweise unabhängig von der Politik Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit sucht. Im Fall der Wirtschaftsforschungsinstitute sind die wissenschaftlichen Anstrengungen darüber hinaus auch bereits in Denkfabriken gebündelt. Denkfabriken oder Think-Tanks, wie sie auch genannt werden, sind privat oder öffentlich finanzierte praxisorientierte Forschungsinstitute, die mit wissenschaftlichen Methoden politik- und praxisrelevante Fragestellungen behandeln. Es gibt in Deutschland zwischen 80 und 130 Think-Tanks, die Zahl hängt davon ab, ob man Universitätsinstitute, die ähnliche Fragen behandeln, dazurechnet. Insgesamt gibt es in Deutschland mehr als 600 wissenschaftliche Gremien, die beratende Funktionen ausüben. Man kann festhalten: Trotz aller Kritik am Berater und den Beratungsgremien besteht der Wunsch der Politik, beraten zu werden, weiter.

Warum aber muss man überhaupt beraten werden? Weil die Augen ihr eigenes Sehen nicht sehen können. Mit den Worten Niklas Luhmanns: Der Ratgeber ist eine Notwendigkeit der Selbsterkenntnis, speziell bei politischem (gesellschaftlichem) Handeln. Mit Hilfe fremder Augen gelangt man zu einer besseren Selbsterkenntnis, „insbesondere der Erkenntnis eigener Interessen“ (Niklas Luhmann). Damit ist der ursprüngliche personale Charakter der Situation des Ratgebens benannt. Aus ihr lassen sich alle weiteren Fragen und Probleme herleiten. Denn dass der Politiker in der Regel auf der Seite der Macht steht und der Ratgeber eben nicht, dürfte klar sein. Und es ist auch klar, dass es keine Verpflichtung von Seiten der Macht gibt, sich jeden Rat anzuhören, geschweige denn anzunehmen.

Kurt Biedenkopf, als ehemaliger Professor für Rechtswissenschaften, Ministerpräsident und Geschäftsführer der Henkel GmbH selbst schon fast eine Schimäre aus den Systemen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, drückt es so aus: „Es herrscht eine globale Erkenntnisresistenz immer dann vor, wenn das Ergebnis der wissenschaftlichen Beratung die Basis Macht ausübender Strukturen gefährdet. Die Politik lässt ihren Entscheidungen hier nicht ohne weiteres von außen einen Legitimationszwang aufbürden.“ In Biedenkopfs Diktum sind Wissenschaft und Politik allerdings noch getrennt gedacht. Schwieriger, als das Verhältnis ohnehin schon ist, wird es, wenn Akademien innerhalb bereits bestehender Machtstrukturen so funktionieren, dass man nicht mehr unterscheiden kann, aus welchem System, dem der Politik oder Wissenschaft, sie ihre Motivationen nehmen. Ein sowieso schon in den Strukturen der Politik denkender und fragender Berater wäre dann nicht viel mehr als ein Übersetzer im schlechten Sinn. Er macht dem Politiker die Welt im Sinne seiner Machterhaltung lesbar. Der Berater wäre ein klassischer Mandarin wie der amerikanische Staatsdenker Francis Fukuyama.

Oder ein weniger tendenziöses Beispiel: Wenn heute fast alle führenden Genetiker und Molekularbiologen gleichzeitig Besitzer oder Teilhaber von Gen-Tech-Unternehmen sind, werden ihre Forschungsfragen notwendigerweise von ökonomischen Interessen durchdrungen. Damit ändert sich auch der Wissenschaftler als Typus. Der versponnene, leicht wirre, aber eigene Typ des Gelehrten verschwindet, und eloquente Manager, die wissen, wie man die Aufmerksamkeit von Geld gebenden Politikern fesselt, treten an seine Stelle. Damit werden nicht nur aktuelle Entscheidungen beeinflusst, es werden Weichen in eine Richtung gestellt, die wissenschaftliche Fragen in die Abhängigkeit von politischen und ökonomischen Konjunkturen gedrängt, die sich schnell ändern können.

Daraus muss nicht folgen, dass Urteile und Prognosen solcherart arbeitender Wissenschaftler falsch sind, man kann aber fragen, ob ein Genetiker, der auch die Auswirkungen eines bestimmten Gesetzes auf den Erfolg eines seiner Patente auf dem Markt im Kopf hat, der richtige Berater in einem Gremium eben für ein solches Gesetz ist.

Über die ungelösten Probleme, wer und nach welchen Kriterien über die Auswahl der Berater entscheidet, gilt über die Politik hinaus, dass man sowieso nur dort beraten kann, wo auch nach Rat gefragt wird. Welcher Rat von wem eingeholt wird, unterliegt oft irrationalen Stimmungsschwankungen, die dann ähnliche irrationale Erklärungen hervorbringen. Das wurde zuletzt am Fall der Kindstötungen der Sabine H. deutlich. Noch vor fünf Jahren hätte man in den Medien Soziobiologen, Ethnologen oder Anthropologen befragt. Das gab es diesmal nicht, und so bleiben die Erklärungen mehr oder weniger ethisch, soziologisch oder gesellschaftsanalytisch.

Nur Katharina Rutschky hat in dieser Zeitung einen etwas anderen Blick gewagt, der zumindest noch ahnen ließ, dass es mal eine Frauenbewegung gab und dass sie weiß, dass es eine Wissenschaft mit Namen Psychoanalyse gibt. Einen Blick auf die Geschichte der Kindstötungen in der ersten Nacht wagte niemand mehr. Und der hätte zu anderen Beobachtungen und Beschreibungen geführt als die, die man hörte und las. Nach Luhmann wäre damit die wissenschaftliche Aufgabe der Beratung erfüllt.