Die Folgen der Besatzung

NAHOST Seit 2004 skandalisieren ehemalige israelische Soldaten den Alltag in den besetzten Gebieten. Aktivisten von Breaking The Silence führen jetzt durch eine Fotoausstellung im Willy-Brandt-Haus

Nadav Bigelman hat diese Bilder oft gesehen, aber man merkt ihm an, dass sie ihn immer noch bewegen

VON ANDREAS HARTMANN

Nadav Bigelman sieht mit seinem Bart und der Wuschelfrisur aus wie viele der jungen, hippen Israelis, die so gerne nach Berlin kommen, wegen dem Nachtleben und all dem. Bigelman ist aber hier, um mit weiteren Aktivisten der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking The Silence zwei Wochen lang beinahe täglich durch die Fotoausstellung „Zeugnisse einer Besatzung – Israelische Soldaten berichten“ im Willy-Brandt-Haus zu führen.

Bigelman war, wie fast alle Israelis, selbst Soldat in der israelischen Armee. Wenn einer wie er mit eigenen Worten beschreibt, was man auf den Fotos sieht, wirken diese noch eindringlicher. Man sieht auf den Fotos viele Palästinenser aus dem Westjordanland, denen die Augen verbunden wurden, Gefangene der israelischen Armee, und man sieht viele israelische Soldaten, die diese Gefangenen lächelnd der Kamera präsentieren, wie Jagdtrophäen.

Diese zum Teil schockierende Entwürdigung von Palästinensern, das sei der Alltag in den besetzten Gebieten, erfährt man von Bigelman. Diesen Alltag zu dokumentieren und vor allem auch im eigenen Land zu skandalisieren, sieht die 2004 gegründete Organisation Breaking The Silence als ihre Aufgabe an. Vor der Arbeit von Breaking The Silence galten israelische Soldaten, die sich in den besetzten Gebieten unwürdig benahmen, als Ausnahmeerscheinungen in einer Armee, auf die man in Israel große Stücke hält.

Doch längst kann man auch in Israel wissen, wenn man es denn will, dass der Alltag der Besatzung zweifelhafte Aktionen seitens der Armee mit sich bringt, die nach den rechtstaatlichen Standards in Israel, das sich so gerne als Musterdemokratie im Nahen Osten sieht, nicht zu rechtfertigen sind.

Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland, attestiert den Aktivisten von Breaking The Silence dann auch, dass es ihnen bei ihrer Arbeit um nicht weniger als „um die Menschenrechte und damit um das Überleben ihres Staates Israel“ ginge.

In den letzten Jahren ist die Bekanntheit von Breaking The Silence enorm gewachsen. Die von der Organisation wöchentlich in Jerusalem angebotenen Touren auf Spendenbasis, die in die besetzten Gebiete führen, sind vor allem bei politisch interessierten Touristen und Menschenrechtsaktivisten populär. Auch hier ist das Spannende, dass man von ehemaligen israelischen Soldaten geführt wird, die vor ein paar Monaten noch in Uniform und nicht als Aufklärer und Kritiker der israelischen Politik in den besetzten Gebieten waren.

Flankierend zur Ausstellung ist auch die Protokollsammlung „Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten“ im Econ-Verlag erschienen, eine erschütternde Dokumentation über die Demütigungsstrategien, die die israelische Armee in den besetzten Gebieten anwendet. Darin berichten israelische Soldaten, wie sie dazu aufgefordert werden, Palästinenser ohne ersichtlichen Grund zu schikanieren und wie sie vor allem in Hebron israelische Siedler beschützen müssen, die Palästinenser mit Steinen bewerfen oder bespucken, während sie umgekehrt jeden Übergriff der Palästinenser ahnden müssen. Wer dieses Buch gelesen hat, wundert sich vielleicht nicht mehr so sehr darüber, dass sich Sigmar Gabriel nach einem Besuch in Hebron dazu verstiegen hat, Israel mit einem Apartheidstaat zu vergleichen.

Aus den kurzen Beschreibungen und Momentaufnahmen im Buch und in der Ausstellung ergibt sich ein monströses Mosaik, das sich israelische Besatzungspolitik nennt. Kleinigkeiten und scheinbare Nebensächlichkeiten zeigen nicht nur, wie die Besatzung funktioniert, sondern auch, was diese mit den jungen Menschen macht, die sie mitorganisieren. Man sieht Fotos, bei denen ein Fadenkreuz auf einen palästinensischen Zivilisten gerichtet ist. Aus Langeweile kommt fast jeder der Soldaten, die gerade mal volljährig sind, auf die Idee, sein Gewehr auf einen Zivilisten zu richten, sagt Nadav Bigelman. Oder dieses Foto, auf dem man in die Kamera lachende israelische Soldaten sieht, die es sich auf einer Couch bequem gemacht haben, um im Fernseher ein WM-Spiel zwischen Nigeria und Argentinien zu sehen. Sie haben sich, weil sie Lust hatten, das Spiel zu sehen, im Haus einer palästinensischen Familie ausgebreitet. Die Familie selbst wurde nach draußen geschickt unter dem Vorwand einer Routinekontrolle. Ist das Recht oder Unrecht? Nadav Bigelman erklärt, irgendwann wisse man das nicht mehr.

Ein Teil des Gewissenskonflikts, in dem sich Bigelman während seines Einsatzes in Hebron befand, ergab sich aus der Erkenntnis, zu wessen Schutz man eigentlich hier war: zum Schutz von teils gewaltbereiten Siedlern. Man sieht Fotos von Graffitis, die Siedler geschrieben haben: „Tod den Arabern“. Oder, ganz krass: „Araber in die Gaskammern!“ Nadav Bigelman hat diese Bilder oft gesehen, aber man merkt ihm an, dass sie ihn immer noch bewegen.

■ Willy-Brandt-Haus. Di.–So., 12–20 Uhr. Bis 29. September