: Weil ich ein Räuber bin
MÄRCHEN Vor zweihundert Jahren erschienen in Berlin Grimms Märchen. Das wird im Kino Babylon mit einer Reihe von Märchenfilmen der Defa gefeiert, in denen Erotik und Klassenkampf wichtiger sind als die Zauberei
VON DETLEF KUHLBRODT
Nachdem sie 1806 ihr Studium abgeschlossen hatten, begannen die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm auf Veranlassung von Achim von Arnim und Clemens Brentano, Märchen zu sammeln. Am 20. Dezember 1812 erschien der erste Band der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm in Berlin.
Die Grimms verglichen die bis dahin mündlich überlieferten Märchen mit der Unschuld eines Kindes. Mit ihrer Sammlung wollten sie nicht nur die Geschichte der Poesie und Mythologie um ein wichtiges Kapitel ergänzen; sie sollte „als ein Erziehungsbuch dienen“. Um diesem Anspruch zu genügen, wurden erotische Anspielungen, „jeder für das Kindesalter nicht passende Ausdruck“ in der 1819 erschienenen Neuauflage beseitigt.
Aus Anlass des 200-jährigen Jubiläums der Erstausgabe von Grimms Märchen veranstalten der Progress-Filmverleih und das Kino Babylon eine große Brüder-Grimm-Filmreihe mit 16 der insgesamt 50 Defa-Märchen-Verfilmungen, die teils im Babylon uraufgeführt worden sind. Manche der Filmvorführungen werden von prominenten „Märchenpaten“ begleitet, die vor dem Film die jeweiligen, meist nur wenige Seiten langen Märchen vorlesen. Angekündigt sind unter anderem die Schauspielerinnen Aylin Tezel und Marianne Sägebrecht, die Hauptrollen in Neuverfilmungen der Märchen hatten, und Anna Thalbach, deren Mutter die Prinzessin in dem Film „Das blaue Licht“ gab.
Meist handelt es sich bei den Defa-Verfilmungen um freie Bearbeitungen, bei denen es darum ging, die Helden in eine konkrete gesellschaftliche Situation zu stellen, die Klassenzugehörigkeit hervorzuheben und die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten des Helden zu betonen. Besonders deutlich wird das in Iris Gusners Verfilmung des „Blauen Lichts“ (1976), für die Dieter Scharfenberg das Drehbuch schrieb und Reinhard Lakomy ein Lied beisteuerte.
Ein hilfreiches Männchen
Das Märchen erzählt von einem jungen Soldaten, der für den König im Krieg war und um seinen Sold betrogen wurde. Er trifft auf eine Hexe, erledigt einige Herkulesaufgaben. Die Hexe will ihn umbringen, er entdeckt ein geheimnisvolles blaues Licht. Immer wenn er sich mit diesem Licht ein Pfeifchen anzünden möchte, erscheint ein hilfreiches Männchen, das ihm mit Zaubereien zur Seite steht. Mithilfe des Männleins rächt er sich am König, indem er dessen Tochter jede Nacht bei sich als Magd arbeiten lässt. Während die erotischen Komponenten in der Verfilmung präsenter sind als im Märchen, wird das Zauberisch-Märchenhafte weniger betont. Manche Passagen, die von der Klassengesellschaft erzählen, sind sehr lustig: Anfangs überfällt ein Räuber den Helden. Gefragt, warum er das mache, antwortet er: „Weil ich ein Räuber bin.“
Francesco Stefanis Film „Das singende, klingende Bäumchen“ von 1957 variiert ein Grimm’sches Märchenfragment. Um die Liebe der hochmütigen Prinzessin Tausendschön zu erringen, sucht der Prinz nach diesem seltsamen Bäumchen. Ein böser Zwerg gibt es ihm, allerdings nur unter der Bedingung, dass das Bäumchen bis zum Abend singt, was es nur tut, wenn die Prinzessin den Prinzen liebt. Weil sie keine Lust hat, wird der Prinz in einen Bären verwandelt. Als Bär entführt er die Prinzessin in einen Zaubergarten. Weil sie sich herrschsüchtig aufführt und böse zu den Tieren ist, wird sie ihrer Schönheit beraubt. Sie lernt nun, dass es besser ist, gut zu sein, und verliebt sich gar in den Bären. Doch bevor alles ein gutes Ende nimmt, muss der böse Zwerg besiegt werden.
Der Film ist eine farbenprächtige Studioinszenierung und wurde 1973 auf dem Filmfest Kalkutta mit der Bronzemedaille ausgezeichnet. Die Schauspielerin Tilda Swinton ist ein großer Fan des Films. Die Kulissen erinnern an die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg; die ihrer Schönheit beraubte Prinzessin hat grüne Haare und sieht mit ihrer neuen Kartoffelnase fast hübscher aus als zuvor; gut gelaunt fallen einem auch viele phallische Motive auf, und man muss lachen, wenn die Prinzessin irgendwann empört ruft: „Was fällt Euch ein, mir so ein garstig Ding als Wunderbäumchen anzudrehen?“
Am besten gefällt mir der Film „Sechse kommen durch die Welt“ (1972) von Rainer Simon, weil er auf eine sehr humorvolle Art progressiv ist und zugleich die sozialistischen Verhältnisse zu kritisieren scheint. In der Eingangsszene sieht man den allmächtigen König von Malabunt, wie er sich nach einem gewonnenen Krieg den „großen Orden der Unvergesslichkeit“ verleiht. Sein Hofstab ist verstaubt und maskenhaft, ein Hofdichter ist immer dabei, der die schwachsinnigen Reden des Königs notiert. Die Soldaten, die ein Jahr für ihn kämpften, werden mit drei Hellern abgespeist.
Ein Mädchen macht Frost
Ein Soldat begehrt auf und wird in den Kerker gesperrt. Dort trifft er einen starken Mann, dem alles kaputtgeht, was er anfasst. Seine Destruktionsenergie hat auch ein Gutes: Als er niest, stürzt das Gefängnis zusammen. Die beiden ziehen in die Welt und treffen auf ihrem Weg andere Menschen mit Superkräften; einen unglaublich schnellen Läufer, einen perfekten Jäger, einen Fiedler, dessen Musik die Umstehenden dazu bringt, bis zum Umfallen zu tanzen, und ein Mädchen, das Frost machen kann.
Die sechs Helden, eine DDR-Version der Fantastischen Vier, treffen wieder auf den König, der einen Wettbewerb ausgerichtet hat. Wer seine Tochter im Wettrennen besiegt, bekommt sie zur Frau. Verliert er, wird er geköpft. Die brutalen Elemente der Grimm’schen Märchen sind hier präsent, aber auch ihre kritischen Impulse, wenn es heißt: „Man kommt auch mit einem durch die Welt, der den Hut nicht trägt wie alle Leute.“
■ Samstag, 22. September, 16 Uhr: Märchenerzählerin Dennenesch Zoudé und „Das singende, klingende Bäumchen“. Mehr zum Programm unter babylonberlin.de