: Achten Sie auf den Mann am Rand
Egal wie Karlsruhe heute über die Neuwahlen entscheidet: Der Grüne Werner Schulz hat mit seiner Klage gewonnen. Nur er hatte den Mut, Gerhard Schröders fingierte Vertrauensfrage zu kritisieren. Loblied auf einen Nonkonformisten
VON JENS KÖNIG
Wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheidet, dass Gerhard Schröders Vertrauensfrage rechtens war, dann wird Werner Schulz ein Verlierer sein. Er hat das ganze politische Verfahren zur Auflösung des Bundestages schließlich als Farce bezeichnet und in Karlsruhe dagegen geklagt. Aber egal, was das Gericht heute als Begründung für seine Entscheidung vorbringt, egal, ob es neben der Klageabweisung den Weg für künftige Vertrauensfragen dieser Art juristisch versperrt – Schulz wird in jedem Fall ein Gewinner bleiben. Das ist der Lohn für seine Widerspenstigkeit. Für fünf Minuten Aufrichtigkeit im Deutschen Bundestag.
Dabei wäre Werner Schulz die Rede seines Lebens im Parlament fast verwehrt worden. Als an diesem denkwürdigen 1. Juli 2005 fast alles gelaufen war, als der Kanzler seine Vertrauensfrage begründet hatte und kurz vor der Abstimmung alles nur noch nach einer Formsache aussah, da lief Schulz zur Schriftführerin des Bundestagspräsidiums und meldete bei ihr eine persönliche Erklärung an. „Gib sie zu Protokoll“, raunte Wolfgang Thierse, der Parlamentspräsident, plötzlich zu ihm herüber.
Thierse und Schulz sind befreundet. Sie kennen sich seit dem aufregenden Herbst 1989, als sie die SED samt ihrer Herrschaft zum Teufel jagten. „Ich will reden“, antwortete Schulz.
„Ich habe schon elf Erklärungen“, flüsterte Thierse. „Alle haben sie zu Protokoll gegeben. Das kannst du auch tun.“ Schulz blieb hart. „Ich will reden.“
„Na gut“, sagte Thierse. „Drei Minuten.“
„Nein, fünf“, antwortet Schulz. „Mir stehen fünf Minuten zu, Wolfgang, und das weißt du ganz genau. Das ist vielleicht meine letzte Rede hier. Und deine letzte Sitzung, die du leitest.“
Schulz sprach fünf Minuten, und als sie vorüber waren, war allen im Saal sofort klar, dass sie gerade eine der bemerkenswertesten Reden in der Geschichte des Bundestages gehört hatten. Der grüne Abgeordnete war an diesem Tag der Einzige, der den Mut hatte, darauf hinzuweisen, dass das Parlament dem Volk und nicht dem Kanzler zu dienen hat. Schulz griff den Kanzler und den Außenminister scharf an, er hielt ihnen einen „würdelosen Abgang“ aus der Regierungsverantwortung vor. Und dann fiel da noch das mittlerweile legendäre Wort von dem „Stück Volkskammer“, das der Bundestag hier veranstalte.
Seit dieser Rede ist im Leben von Werner Schulz nicht mehr alles so übersichtlich wie vorher. Er gilt plötzlich nicht mehr als der verbitterte grüne Einzelgänger, zu dem seine Partei ihn in den letzten Jahren gestempelt hat. Er ist jetzt ein Nonkonformist, auf den Lobeshymnen gesungen werden.
Über 3.000 Briefe und E-Mails hat Schulz seit seiner Rede bekommen. Mit jedem Tag, an dem das Fernsehen seinen Auftritt wiederholt, werden es mehr. „Respekt“, schreiben ihm einfache Bürger. „Sie haben an diesem für das Parlament so traurigen Tag die Demokratie gerettet.“ Anwälte und Uni-Professoren schicken ihm lange Abhandlungen über das Staatsrecht. Frustrierte Nichtwähler teilen ihm mit, dass der ganze politische Betrieb verlogen sei, sie seien überrascht, dass da einer sich einem so würdelosen Spiel widersetzt.
„Aufrichtigkeit in der Politik – das ist es, wonach sich die Leute sehnen“, sagt Schulz. „Das ist mir in diesen Tagen wieder so richtig bewusst geworden.“
Selbst in den sonst so gleichmacherischen Medien wird der Unbequeme plötzlich gefeiert. Hans-Ulrich Jörges forderte im Stern die Wähler dazu auf, bei der Bundestagswahl sich ihre enteignete Stimme zurückzuholen, und bekannte, dass er es einfach habe. In seinem Berliner Wahlkreis in Pankow kandidiere Schulz. „Er hat meine erste Stimme“, schrieb Jörges und fügte mit Pathos hinzu: „Der Bundestag ist tot, es lebe der Bundestag.“ Als Christoph Schlingensief neulich in einem Tagesspiegel-Interview die Grünen veralberte, weil Joschka Fischer den Anzug wechsele, wenn er zu jungen Leuten gehe, machte der Theaterrebell eine Ausnahme: „Der einzige Grüne, der mir sympathisch ist, ist dieser Schulz.“
Nur in seiner eigenen Partei ist dieser Schulz isoliert. Die Grünen erkennen in ihm ihr eigenes schlechtes Gewissen wieder, ihr Schweigen zu Schröders kaltem Putsch. Das lassen sie an Schulz aus, ausgerechnet an ihm, dem letzten ostdeutschen Bürgerrechtler in ihren Reihen. Das passt zu ihnen. Auf ihrem Parteitag Mitte Juli haben die grünen Strippenzieher so lange herumgetrickst, bis Schulz am Ende nicht einmal mehr reden durfte.
„Sie werden uns nie verzeihen, was sie uns angetan haben.“ Wolf Biermann hat mit diesem klugen Satz den Hass der DDR-Machthaber auf die Oppositionellen im eigenen Land erklärt. Schulz wusste immer genau, was Biermann damit meinte. 1980 verlor er seinen Arbeitsplatz als wissenschaftlicher Assistent an der Berliner Humboldt-Universität, weil er gegen den Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan protestierte. Sieben Jahre später bekam der Bürgerrechtler auf seiner neuen Arbeitsstelle, dem Institut für Sekundärrohstoffe, wieder großen Ärger. Er hängte im SED-Parteilehrjahr, dieser ideologischen Rotlichtbestrahlung, die auch für Nichtgenossen einmal im Monat Pflicht war, ein Plakat mit einem Gorbatschow-Zitat auf und forderte von der Parteileitung, endlich über Glasnost und Perestroika in der DDR zu diskutieren. Der stellvertretende Institutsleiter sprang sofort auf und riss das Plakat von der Wand. Der Institutschef erteilte ihm umgehend Hausverbot. „Nach der Wende habe ich meine beiden ehemaligen Vorgesetzten ein paar Mal wiedergetroffen“, erzählt Schulz. „Die haben sich nicht etwa entschuldigt. Die haben mich gehasst.“
Die Wut hatte sie blind gemacht. So wie Rezzo Schlauch fünfzehn Jahre später auch. Der grüne Ex-Fraktionschef machte Werner Schulz unmittelbar nach dessen Fünf-Minuten-Rede im Bundestag brutal nieder. Er warf ihm vor, „verbrannte Erde“ hinterlassen zu haben. Schulz musste in diesem Moment an den Satz von Biermann denken.
„Ich habe Angst davor, dass mich ausgerechnet bei den Grünen meine DDR-Erfahrungen einholen“, sagt Schulz. „Wenn du dich gegen das Kollektiv stellst, stößt du auf Argwohn. Aber wenn du Recht behältst, wird aus dem Argwohn Hass.“
DDR-Erfahrung bei den Grünen? In gewisser Weise ist es genau das, was die eigenen Parteifreunde Werner Schulz vorwerfen: seine Erfahrungswelt als Bürgerrechtler auf die Grünen, auf den Westen insgesamt zu übertragen. Deswegen haben sie seinen Vergleich des Bundestages mit der DDR-Volkskammer auch nicht als legitime Provokation eines Zornigen verstanden, sondern nur als Gleichsetzung eines Verbitterten. In ihren Augen hat Schulz dafür ausgerechnet das Parlament missbraucht, das die Freiheit der politischen Rede erst garantiert.
Die Grünen sollten sich nicht länger einreden, dass Schulz nur frustriert sei, weil sein großer Traum, Fraktionsvorsitzender der Grünen zu werden, 1998 von Joschka Fischer vereitelt worden ist. Dass er deswegen einen einzigen großen Rachefeldzug gegen die westdeutschen 68er betreibe. Natürlich schmerzt die damalige Niederlage Schulz bis heute. Aber nicht in erster Linie, weil er verloren hat. Sondern weil Fischer, das Machttier, ihm zwei Jahre nach der Abstimmungsniederlage in aller Offenheit klar machte, dass er nie eine Chance gehabt hat: „Ich brauche einen Fraktionschef, den ich nachts aus Washington anrufen und ihm sagen kann: Hör zu, ich erkläre dir die Gründe später, aber du musst morgen in der Fraktion dafür sorgen, dass das so oder so läuft. Mit dir, Werner, wäre das nicht möglich. Mit dir müsste ich darüber erst eine Stunde diskutieren, und dazu hätte ich keinen Nerv.“
Die Grünen sollten dankbar sein, dass Werner Schulz so renitent ist. Er bleibt seinen Überzeugungen treu, weil sie ihn einiges gekostet haben. Auch an bitterer Selbsterfahrung. Als er 1968 an der Humboldt-Uni studierte, sollte er den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag auf einer Unterschriftenliste begrüßen. Er weigerte sich, er hielt den „Prager Frühling“ für richtig. Als Druck ausgeübt wurde, unterschrieb er doch. Gegen seine Überzeugung. Er schwor sich, das nie wieder zu tun.
Es gab Zeiten, da haben sich die Grünen genau in dieser Form von Zivilcourage wiedererkannt. Deswegen haben sie sich mit den Bürgerrechtlern vom Bündnis 90 vereinigt. So lautet im Übrigen bis heute der offizielle Parteiname: Bündnis 90/Die Grünen. Er erinnert daran, dass man sich in der DDR die Demokratie erkämpfen musste. Deswegen nimmt einer wie Schulz sie besonders ernst.