: Missverstandene Staatsschulden
Wir brauchen kein Spar- und Konsolidierungsprogramm – Haushaltsdefizite kurbeln die Konjunktur an. Und auch gegen den Zinsgewinn der Reichen lässt sich etwas tun
Die Zahlen klingen bombastisch. Im ersten Halbjahr 2005 fehlten Bund, Ländern, Gemeinden und den Sozialversicherungen 39 Milliarden Euro, im letzten Jahr waren es 80 Milliarden. Bis Ende 2004 hatten sie insgesamt 1.437 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft. Die Schuldenquote lag damit bei 65,1 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung. Auf den aufgelaufenen Schuldenstand waren 63,5 Milliarden Euro Zinsen zu zahlen. Zum dritten Mal in Folge verletzte Deutschland 2004 auch die in Maastricht willkürlich festgelegte 3-Prozent-Marke der jährlich maximal erlaubten Netto-Neuverschuldung. Im ersten Halbjahr 2005 lag sie bei 3,6 Prozent, kalkulierte das Statistische Bundesamt.
So scheint die „Grenze der Verschuldung“ überschritten und ein drastisches Spar- und Konsolidierungsprogramm vonnöten. Damit ist aber auch sofort die Frage aufgeworfen, wer den Schuldenabbau finanzieren soll: der Faktor Arbeit durch mehr Lohnsteuern oder der Faktor Kapital und die vermögenden Schichten durch mehr Gewinn- und Vermögensteuern? Auch könnte die Mehrwertsteuer steigen – und natürlich ist eine Kombination aus allem möglich. Außerdem bliebe noch die Senkung der Staatsausgaben.
Die Folgen für Wachstum und Beschäftigung wären allerdings katastrophal. Der Grund dafür liegt im gesamtwirtschaftlichen „Sparparadoxon“, einer der vielen kapitalistischen „Rationalitätsfallen“, wie Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrats, zu Recht bemerkt. Spart ein einzelner privater Haushalt oder ein Unternehmen, so mag dies durchaus eine Tugend und rational sein und zu einer angestrebten einzelwirtschaftlichen Konsolidierung führen. Sparen aber alle privaten Haushalte, Unternehmen und auch noch der Staat, so müssen unweigerlich auch bei allen die Einnahmen zurückgehen, weil jede Ausgabe eines einzelnen Akteurs gleichzeitig auch die Einnahme eines anderen Akteurs darstellt. Es kommt zu weniger Wachstum und damit zu geringeren Steuereinnahmen. Letztlich steigt trotz des Sparens paradoxerweise die Staatsverschuldung.
Die gesamtwirtschaftliche Vermögensbildung und Finanzierungsrechnung über alle Sektoren (private Haushalte, Unternehmen und Ausland) zeigt für 2004 einen Überschuss von mehr als 150 Milliarden Euro. Die eigentlich zur Abschöpfung vorgesehenen Unternehmen erzielten sogar Überschüsse. Wo ist aber, wenn nicht zu den Unternehmen, der Überschuss hingeflossen? 70 Milliarden gingen ins Ausland. Mehr als die Hälfte aber, 80 Milliarden, hat der Staat mit seiner Neuverschuldung absorbiert und nachfragewirksam in den Wirtschaftskreislauf zurückgegeben. Diese staatliche Nachfrage nach Krediten ist geradezu ein Segen für die Finanzmärkte bzw. -institute, die damit ihr Geld verdienen. Der Staat genießt hier höchstes Vertrauen und Bonität. Und ohne die staatliche Kreditnachfrage wäre die Wirtschaft kläglich in eine tiefe Rezession gelaufen.
Auch die Behauptung, der Staatshaushalt sei mit dem eines privaten Haushalts oder Unternehmens vergleichbar, die schließlich auch langfristig nicht wesentlich mehr ausgeben als einnehmen könnten, ist nur ein Scheinargument gegen Staatsverschuldung. Denn erstens ist die öffentliche inländische Verschuldung eine Kreditsumme, die wir – Bürger und Institutionen wie Banken und Versicherungen – uns selbst schulden. Demgegenüber sind private Schulden Forderungen zwischen verschiedenen Wirtschaftseinheiten. Zweitens muss eine öffentliche Schuld nicht unbedingt zurückgezahlt werden; das Staatsvolk als Schuldner hat theoretisch eine ewige Lebensdauer. Die fälligen Anleihen könnten durch immer wiederkehrende Neuausgaben von Papieren abgelöst werden. Drittens würde selbst eine Tilgung der Staatsschulden einer Volkswirtschaft keinen Reichtumsvorteil bringen. Die Steuern müssten im Falle der Tilgung erhöht werden, um die Rückkaufbeträge aufzubringen. Der Staat gäbe die Mehreinnahmen also an die Wirtschaftssubjekte zurück, die ihm gerade höhere Steuern abgeliefert haben. Ein bloßer Transferprozess fände statt.
Allerdings, heißt es, würden hierdurch Umverteilungsprozesse ausgelöst, die auch allgemein gegen Staatsverschuldung vorgebracht werden. Es komme zu einer Umverteilung von „unten“ nach „oben“, weil der Staat sich bei vermögenden Staatsbürgern verschulde, fällige Zinsen aber aus dem allgemeinen Steueraufkommen begleiche und auf diese Weise einer staatlich initiierten Umverteilung Vorschub leiste. Hier wird eine ökonomische Kausalität auf den Kopf gestellt. Denn Zinseinkommen entstehen dadurch, dass einzelne Haushalte in der Lage sind, Ersparnisse zu bilden. Aus der Staatsverschuldung folgt somit kein Gerechtigkeitsproblem, das nicht mit Blick auf die vorhandenen Einkommens- und Vermögensdisparitäten bereits bestanden hätte. Dagegen ist einiges machbar: eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, eine Umverteilung zu den Löhnen und Gehältern per Gewinnbeteiligung, die Wiedereinführung der Vermögensteuer sowie angemessene Steuersätze bei Erbschaften, Einkommen und Gewinnen.
Auch von der Behauptung, der Staat würde „über seine Verhältnisse leben“ und zukünftige Generationen belasten, bleibt bei näherer Betrachtung nichts übrig. Im Gegenteil: Es ist ökonomisch und generationsübergreifend überaus sinnvoll, die Entwicklungsqualität einer Volkswirtschaft zu stärken. Doch in den Jahren 2003 und 2004 lagen die Abschreibungen auf den staatlichen Kapitalstock sogar über den getätigten Investitionen; es kam also zu staatlichen negativen Nettoinvestitionen. So ist es völlig unverständlich, zu behaupten, die nachfolgenden Generationen würden nur mit den Staatsschulden belastet. Das Gegenteil ist richtig.
Schon 1878 betonte der Finanzwissenschaftler Lorenz von Stein: „Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Außerdem werden nicht nur die Schulden vererbt, sondern auch die dahinter stehenden Forderungen bzw. das Vermögen. Staatsverschuldung heißt nichts anderes, als dass hinter den Staatsschulden exakt gleich große Vermögensbestände (Überschüsse) stehen. Ohne die Schulden des Staates und der Unternehmen wären die Geldvermögensbestände der privaten Haushalte nicht möglich.
Diese lagen 2004 bei über 4 Billionen Euro. Nach Abzug der Schulden der privaten Haushalte blieb ein Nettogeldvermögen von 2,5 Billionen Euro. Hinzu kamen noch 4,8 Billionen Euro Sachvermögen (Immobilien und Betriebsvermögen). Allein das Nettogeldvermögen der privaten Haushalte hat sich seit der deutschen Einheit mehr als verdoppelt.
In Summe ist Deutschland also ein reiches Land. Der Reichtum ist nur falsch verteilt – und es ist zu befürchten, dass die Umverteilung zu den Reichen und Vermögenden im Lande weitergeht und uns gerade deshalb die Staatsverschuldung erhalten bleibt. HEINZ-J. BONTRUP