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Archiv-Artikel

Seelische Sollbruchstellen

Die Marionettenkünstlerin Ilka Schönbein dekonstruiert Gefühle und Körper, um die „Wesenheiten“ aufzufinden, von denen wir alle besessen sind. Diese Woche gastiert sie auf Kampnagel

von Petra Schellen

Vielleicht verhält sich das bei Ilka Schönbein ein bisschen wie bei den Schlangen: Häutung auf Häutung wird sie durchleben – immer in der Hoffnung, irgendwann zum wirklichen, endgültigen Körper gefunden zu haben. Und immer wieder wird sie erleben, dass all dies nur Phase und Provisorium war. Denn das Leben ist Häutung, auch wenn wir stetig nach Sicherheit – oder soll man sagen: Erstarrung suchen; „wir alle suchen nach einem Ort, an dem unsere Ängste versiegen“.

Worte, die die Marionettenkünstlerin Ilka Schönbein, die jetzt mit einer Adaption von Franz Schuberts „Winterreise“ auf Kampnagel gastiert, so vielleicht nicht aussprechen würde. Denn die von der Authentizitätsidee der Steinerschen Eurythmie beeinflusste Darmstädterin, die samt ihren Marionetten, dem „Theater Meschugge“, seit etlichen Jahren auf Frankreichs Straßen spielt – sie spricht nicht gern über ihre Kunst. Sie braucht Zeit, um nach der Aufführung wieder in unser Sonnensystem zurückzutauchen, kurz: Sie spielt lieber, was sie denkt. Sie filettiert ganz direkt, was ihr fragil erscheint; sie schaut ohne Gnade auf Sollbruchstellen menschlichen Selbstverständnisses – und letztgültige Antworten wird sie schon gar nicht geben.

Mit „Metamorphosen“, einem Stück über das Elend der KZ-Häftlinge, hat sie ihren internationalen Ruf begründet – mit jenem bizarren, packenden Stück, in denen ihr Körper mit Prothesen verschmilzt und in dem das Gesicht hinter der Maske, die Maske wiederum hinter den Gesichtern neuer Figuren verschwindet; zerbrechlich sind sie alle. Ein Prozedere, das sie in ihrer „Winterreise“ intensiviert: Verdoppelt und verdreifacht wird hier ihr Gesicht, ganz konkret bersten wird das schmerzende Herz der Puppe. Und wenn im Text davon die Rede ist, dass die Liebe jemandem den Kopf verdreht, dann demonstriert Ilka Schönbein das in ihrer Performance ganz konkret.

Eine schlicht zeichenhafte Übertragung von Wortmaterial, könnte man vermuten, doch das allein ist es nicht: Auf eine allgemeinere Ebene hebt sie die melancholischen Texte des verratenen Liebenden in Schuberts Zyklus, hat sie doch nicht nur die Geschlechter vertauscht – eine Erzählerin und ein männlicher Protagonist beherrschen neben allerlei Rabenvolk die Drehbühnen-Szenerie. Nein, Ilka Schönbein hat Schuberts Werk auch behutsam den Nimbus genommen und den Klavierpart einem Akkordeonspieler übertragen.

Die ausgewählten Lieder des Librettisten Wilhelm Müller wiederum werden auf Französisch rezitiert. Ein in Anbetracht ihrer Biographie konsequenter Schritt, der eventuell mit Schuberts Liedgut verbundenen Patriotismen den Boden entzieht und sich auf den emotionalen Gehalt der Texte konzentriert. Lustvoll dekonstruiert sie ihren Körper und die Puppen, verschmilzt mit ihnen, um sich wieder zu lösen, agiert Gefühlsfacetten ganz direkt aus und erleichtert so letztlich Verarbeitung: Melancholie, Angst und Freude als vom Individuum getrennte Wesen zu betrachten ist Ilka Schönbeins Ziel: „Ich will diese Personen aus meinem Körper ziehen – Wesen, die schließlich zu leben beginnen werden und die mir vielleicht eines fernen Tages verraten werden, warum sie geboren sind.“

Sie möchte sie sichtbar machen, die seelischen Verschraubungen der Spezies Mensch, sie bewegt sich stetig in morbiden Gefilden, ihre Besessenheit zelebrierend. Aus der Haut fahren wird sie in jeder einzelnen Sequenz, denn Haut ist für sie Äquivalent des seelischen Immunsystems, an dessen Rissigkeit ihre Protagonisten leiden. Wer dabei letztlich Herr ist und wer Diener, wer Mensch und wer Marionette: Niemand wird es sagen können, am allerwenigsten die Künstlerin. „Ich lasse die Marionette von meinem Körper Besitz ergreifen“, erklärt sie schlicht. Und fragt dabei ganz subtil, wessen Marionetten die Zuschauer ihrer Stücke eigentlich sind.

Theater Meschugge/Ilka Schönbein: Winterreise: Do, 1. bis Sa, 3. 9., 20 Uhr, Kampnagel